Den Kopf hinhalten. Jens Rosteck
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Jens Rosteck
Den Kopf hinhalten
Jens Rosteck
Den Kopf hinhalten
Roman
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eISBN 978-3-8271-8400-9
Ohne zu wissen warum
liebe ich diese Welt,
auf die wir kommen,
um zu sterben.
Natsume SŌseki
1
Letztes Stündlein
Träume hatte Rupert sich schon seit Langem verboten. Erlebtes im Unterbewusstsein weiterzuspinnen, richtungslos abzuschweifen und die Ereignisse der letzten Jahre auch noch im Schlaf vor seinem inneren Auge ablaufen zu lassen, war strengstens untersagt. So hatte er es seinem Gewissen eingebläut. Und war, im Laufe der Zeit, gegen Anfechtungen jeglicher Art erfolgreich immun geworden.
Dösend im Bett liegen zu bleiben und den Tag zu vertrödeln: Das kam nicht infrage. Abzuwägen, was besser sei oder richtiger gewesen wäre: sinnlos. Mit sich zu hadern, sich mit Fragen zu quälen, sich rastlos auf seinem Laken hin und her zu werfen oder fortgesetzt unter Selbstvorwürfen zu leiden – unnötig und pure Zeitverschwendung. Wankelmütig zu werden oder gar zu zweifeln war, so hatte er ein für alle Mal beschlossen, ein Ding der Unmöglichkeit. Jedenfalls was ihn betraf.
Das gehörte sich nicht für ihn, einen entschlossenen, vorbildlichen Mann. Für ihn, Beaufort. Einen, nach allgemeinem Urteil, charakterstarken Scharfrichter. Den Gentleman unter den Henkern, wie die Presse ihn nannte. Den Routinier unter den Hangmen, so die Meinung seiner Kollegen. Den mutigen und unbestechlichen Nationalhelden, befanden einige Patrioten. Den Star unter den staatlich bestellten Todesengeln, so feierten ihn Freunde und trinkfreudige Kunden in seinem Lokal. Den Ersten im Lande, so das einstimmige Urteil der zuständigen Behörden. Den Besten seiner Zunft, davon war er selbst überzeugt.
Träume waren etwas für Sentimentale und Nostalgiker. Träume waren ein Luxus, den man sich besser nicht leistete. Träume machten träge. Träume konnten einen schwer belasten. Träume führten dazu, dass man Gefahr lief, sein Ziel aus den Augen zu verlieren.
Nein, nichts wäre törichter, als in der Vergangenheit zu verharren, sich mit Vorfällen zu befassen, an deren Verlauf oder Ausgang nichts mehr zu ändern war. Lieber richtete Rupert den Blick nach vorn. Befahl sich Zurückhaltung, verordnete sich Klarheit, ließ kein dunkles Wölkchen über seinen Gedanken schweben. Innere Einwände verscheuchte er. Und des Nachts wollte er wirklich nur eins: gründlich zur Ruhe kommen. Wegtauchen. So hatte er es schon immer gehandhabt. Einfach abschalten. Für ein paar Stunden wenigstens. Sich allmählich auf seine nächste Aufgabe vorbereiten. Präsent sein und konzentriert. Kräfte sammeln. Um seine Pflicht zu tun. Voller Entschlussfreudigkeit. So wie an diesem Junimorgen im Jahre 1956. Er stellte fest, dass er tief und gut geschlafen hatte, ausreichend allemal. Auch wenn er erst mitten in der Nacht nach Hause gekommen war, nachdem er im Pub noch klar Schiff gemacht hatte.
Träume, zumindest angebrochene, fochten ihn nicht an. Träume, die keinen Anfang und kein Ende kannten, vergaß man auf der Stelle. Träume waren ein Irrtum. Träume führten zu nichts.
Sein vierundzwanzigstes Jubiläum im Dienst der britischen Krone rückte näher. Fast ein Vierteljahrhundert hatte Beaufort perfekt funktioniert. Zur allgemeinen Zufriedenheit. Hinrichtung für Hinrichtung, ob nun in London, Manchester oder Dublin. Ob daheim im Vereinigten Königreich, in Deutschland und Irland, in Österreich oder im Nildelta. Hatte Aufträge ausgeführt, vor denen sich die meisten, die er kannte, gefürchtet hätten. Vor denen sie zurückgeschreckt wären.
Vorbildlich hatte er agiert. Konsequent und kompromisslos. War kreuz und quer durch Europa gereist, um seiner Nation zu Diensten zu sein, ohne sich zu beschweren oder auch nur zu murren. War bei Wind und Wetter in die entlegensten Ecken des Landes geeilt und hatte dabei keine Strapazen gescheut. Hatte in heiklen Situationen seinen Mann gestanden, nie gekniffen.
Und kein einziges Mal hatte er versagt, gezaudert oder seine Vorgesetzten enttäuscht. Nie war er verhindert oder ernsthaft krank gewesen. Nie hatte er Details ausgeplaudert. Verschwiegen wie ein Grab war Beaufort. Fehler waren ihm keine unterlaufen, seine Weste war weiß. Was er tat, hatte – wie er es sah – mit Gewalt nichts zu tun, schon gar nicht mit Grausamkeit, und an seinen Händen haftete auch nicht der kleinste Tropfen Blut. Nicht einmal ein Spritzer.
Mit allem was er tat, hinterließ er weder Flecken noch Spuren: Seine Hände machte er sich nicht schmutzig. Sein Herz blieb heiter. Stattdessen beendete Rupert Lebensläufe. Machte Schluss mit den Schicksalen Dritter. Unerfreuliche, unglückliche, verpfuschte, schlimme und unbeschreiblich schreckliche. Was einzig zählte, war, dass man sich auf ihn verlassen konnte, und das traf seit 1932 zu. Als er als Assistent begonnen hatte. Seit 1941, nach seiner Beförderung, hatte er als Chef das Sagen, bestimmten seine Anweisungen die Regeln beim Hängen. Seitdem war er ein Meister seines Fachs. War unumstritten und unersetzlich.
Und auch so etwas wie ein Künstler. Ein Todeskünstler.
Der heutige Tag durfte also anbrechen, wenn es nach ihm ging, und der Tag brach auch tatsächlich an. So zuverlässig wie er selbst. Fast mechanisch.
In wenigen Sekunden würde er aufstehen und sich ankleiden, sich ein paar Stunden später auf den Weg nach London machen und sich während der Zugfahrt gedanklich vorbereiten auf die Tötung eines ihm völlig unbekannten Menschen. Wie so oft würde sie am Samstagmorgen, pünktlich um neun Uhr, anberaumt werden, reibungslos vonstattengehen und, dafür würde er während der Durchführung Sorge tragen, niemandem Anlass zur Klage bieten. Keine zwanzig Sekunden würde es dauern, die Strafe zu vollstrecken. Keine Minute würde vergehen zwischen dem gemeinsamen Verlassen der Zelle und dem jähen Hinabfahren des Delinquenten ins Bodenlose, zwischen letztem Geleit und Genickbruch, zwischen Fürsorge und Eindeutigkeit. Präzision lautete Ruperts oberstes Gebot, Sorgfalt und Umsicht waren entscheidend.
Zwischen achthundert und achthundertfünfzig Verurteilte und Verbrecher hatte er, als Arm des Gesetzes, im Laufe seines Lebens schon ins Jenseits befördert. Im Namen des Volkes, als Saubermann. Wie viele genau, wusste nur er allein und würde es, soweit möglich, niemandem verraten. Das ging nur ihn etwas an. Er war niemandem Rechenschaft schuldig. Wie viele davon Männer und wie viele Frauen gewesen waren, spielte keine Rolle und tat, selbst wenn man ihn danach gefragt hätte, nichts zur Sache. Wie viele davon womöglich unschuldig gewesen waren oder eine mildere Strafe verdient gehabt hätten, kümmerte ihn nicht.