Den Kopf hinhalten. Jens Rosteck
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Höflich war, mit wenigen Ausnahmen, ihr Betragen. Gefasst waren sie, nur wenige wehrten sich, und die Ruhigsten unter ihnen atmeten hörbar auf, wenn sie merkten, dass Rupert auch ihnen mit Zuvorkommenheit begegnete.
Seine Verurteilten. Sie gehörten ihm ja, an diesem letzten Tag ihres Lebens. Ihm allein. In ihrer Todesstunde, kaum mehr als ein Stündchen, das dann auf nur wenige Minuten, Sekunden eigentlich, zusammenschrumpfte, gehörten sie ihm ganz und gar.
Er hatte gelernt, sie zu studieren und ihre Demut zu deuten. Er las in ihren Augen, spürte, wie zartbesaitet sie eigentlich waren, erkannte die Verwundbarkeit, die Verletzungen, die tiefen Wunden ihres Vorlebens; von ihren eigentlichen Straftaten erfuhr er in diesem Moment nichts und wollte auch, zumal wenn er die Hinrichtung hinter sich gebracht hatte, so wenig wie möglich davon wissen.
All dies hätte er seinen Gästen im Pub am liebsten einmal in Ruhe auseinandergesetzt. Allerdings ließen sie ihn nie zu Worte kommen, ihnen stand der Sinn nach anderen Informationen. Oder nach Liedern. Möglichst zweideutigen oder obszönen. Diesen sich in Ekstase steigernden, nach Blut und Gewalt förmlich lechzenden Frauen in seinem Lokal, allesamt ehrbare Ehefrauen noch dazu, die sich unter dem amüsierten Blick ihrer Männer gerne einmal ein wenig gehen ließen, hätte Rupert gern erklärt, dass er überhaupt kein Mörder war. Beteuert hätte er es. Auch, dass er sich nicht mit einem Serial Killer, wie ihm immer wieder zu Ohren gekommen war, vergleichen ließ.
Bei solchen Szenen hätte er Stuart am liebsten untersagt, was der seit Monaten am liebsten tat: von Ruperts neuestem Auftrag überall im Ort und selbst in Manchester ungeniert herumzuerzählen.
Es half nichts: Die Sensationsgier seines Kumpels war stärker. Kaum hatte Rupert das nächste offizielle Schreiben von der Gefängniskommission erhalten und, an den Kaminsims gelehnt, aufmerksam studiert, kaum das genaue Datum der Exekution in Erfahrung gebracht und den Ablauf seines Wochenendes fern von zu Hause geplant, wusste Nicholson aus mysteriösen Gründen genauestens Bescheid, verbreitete Gerüchte, applaudierte Rupert, wenn er die Kneipe betrat, grinste vielsagend, wies mit dem Daumen auf ihn und ließ ihn hochleben – dabei hätten Ruth und ihr Mann die Hand dafür ins Feuer legen können, niemandem davon berichtet zu haben.
The Rose & Crown war Ruperts und Ruths zweiter Pub und der erste mit einem ansprechenden Namen, der erste auch auf dem Land. Den ersten, weitaus kleineren, im Randbezirk der Großstadt, hatten sie kurz nach ihrer Eheschließung gepachtet, was mitten im Krieg und ohne nennenswerte Ersparnisse ein mutiger, fast leichtfertiger Schritt gewesen war.
Rupert, damals an die vierzig, hatte aber schon seit Langem Aufstiegschancen gewittert und nur auf die passende Gelegenheit gewartet, sie auch wahrzunehmen. Eine niedere Existenz als Auslieferungsfahrer eines Gemüsegroßhändlers führen zu müssen, davon hatte er die Nase voll gehabt. Für einen wie ihn musste und würde sich irgendwo eine Tür öffnen, das war weniger eine Hoffnung als eine Tatsache, von der er schon als Heranwachsender überzeugt gewesen war.
Als Rupert die Anzeige entdeckte, in der nach einem neuen Pächter gesucht wurde, fackelte er daher nicht lange und griff zu. Seine Frau war, wie erwartet, einverstanden. Gemeinsam arbeiteten sie auf ihr neues Ziel hin, verschrieben sich einer Idee. So töricht sie auch sein mochte. Taten alles, um sie Wirklichkeit werden zu lassen.
Sich Gastwirt nennen zu können, das war doch etwas ganz anderes. Und sein eigener Herr zu sein, das war auch nicht zu verachten. Bei allem Risiko. Binnen Kurzem, so hatte Rupert mit reichlich Wunschdenken angenommen, würde er zur Respektsperson werden, würde die Kasse klingeln. Als patenter, gutmütiger Wirt im Hintergrund.
Anfängerglück und der nötige Elan zahlten sich für ihn und die gar nicht so schüchterne Ruth, die sich wahrlich lange genug an der Theke eines Krämerladens die Beine in den Bauch gestanden hatte und gleichfalls nach Höherem strebte, denn auch aus. Weg mit den Brotberufen!
Ihr Elan sollte ihnen Recht geben. Der seit Menschengedenken gut eingeführte Laden, im Zentrum von Hollinwood, für Kneipengänger aus Oldham und trinkfeste Zecher aus Manchester spielend erreichbar, florierte. Und das in den schlimmen Jahren 1943/44! Das Wirtsehepaar besaß offenbar ein Händchen für das neue Metier.
Dass ihr junges Glück bislang kinderlos geblieben war – was sich auch in den Nachkriegsjahren nicht mehr ändern sollte –, begünstigte den Neustart: Beide Beauforts konnten sich der Arbeit im Pub ohne Einschränkungen, Säuglingsbetreuung oder umständliche Aufgabenteilung zwischen Lokal und Kneipe widmen. Sie hatten die Wohnung gleich über dem Pub bezogen, was praktisch war und sie Berufs- und Privatleben auf ideale Weise verbinden ließ.
Dass der traditionsreiche Laden nun ausgerechnet Help the Poor Struggler heißen musste, irritierte das junge Ehepaar anfangs doch sehr. Struggler, da dachte man ja unwillkürlich an einen um sein Leben Kämpfenden, einen, der verzweifelt mit den Beinen strampelt, dessen Füße herabbaumeln und der vergebens nach einem Halt sucht. An einen, der dringend Hilfe braucht, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren und im Sumpf unterzugehen. Struggler, das klang nach Agonie und erfolglosem Bemühen. Zu einem Henker passte der Name dagegen wie die Faust aufs Auge. Trug aufgrund seiner Deutlichkeit dazu bei, dass man sich ordentlich gruselte, provozierte er doch böse Assoziationen und wahre Horrorvorstellungen. Ein schlechter Witz. Ein Bonmot mit üblem Beigeschmack. Weil er, wenn man vom Nebenerwerb des tüchtigen Beauforts erst einmal wusste, natürlich eine echte Geschmacklosigkeit war.
Eine Zeit lang meinte Ruth, es sei womöglich besser, das Schild abzuhängen und eine Namensänderung vorzunehmen, bevor es zu spät sein könnte. Aber die Leute im Viertel hingen längst an dem alten, seit Jahrzehnten etablierten Namen, der auch über Manchester hinaus einen guten Klang zu haben schien.
Es blieb also dabei. Dass den „poor strugglers“ am Galgen aber niemand mehr zu Hilfe kam, dass diesen Armen auf Erden nicht mehr zu helfen war, wusste im Übrigen nur der Galgenmann allein. Das war Ruperts vielleicht größtes Geheimnis. Doch wasserdicht war sein Alibi anscheinend nicht: Alle paar Wochen kritzelte jemand, der den Beauforts auf die Schliche gekommen war und von Ruperts dunklem Geschäft wusste, jemand, der es nicht so gut mit ihnen meinte oder sich einfach auf ihren Kosten einen unpassenden Scherz erlauben wollte, mit Kreide ein Galgenmännchen an die Eingangstür des Pubs. Für jedermann sichtbar.
Augenscheinlich ein Eingeweihter! Wer ihm wohl diese Informationen zugespielt hatte – sie hatten keinen Schimmer. Und einen Könner hatten sie obendrein vor sich, denn die Zeichnungen waren so explizit wie gelungen. Was dem Publican und seiner Frau jedes Mal einen gehörigen Schrecken einjagte. Ruth beeilte sich, das Graffito rasch wieder abzuwischen. Keiner von beiden wusste, wie lange dies barbarische Spielchen noch weitergehen mochte.
In den ersten Monaten nach der Eröffnung des Struggler war gottlob alles gut gegangen, niemand hatte zunächst den Doppelsinn des Lokalnamens auch nur erahnen können. Doch dann, nach Kriegsende, kam die zermürbende, aufreibende Phase auf die Beauforts zu, eine wahre Bewährungsprobe, als Rupert für die Hängung von zahllosen deutschen Kriegsverbrechern nahezu ununterbrochen nach Deutschland geflogen wurde, in geheimer Mission. Nur dass es mit diesem Geheimnis nicht weither war … Ein Auftrag, der von „ganz oben“ kam und eine große Ehre für ihn darstellte. Man brachte ihn in die britische Besatzungszone, um dort, im bislang unbedeutenden Gefängnis einer kleinen niedersächsischen Stadt, von der britischen Militärjustiz angeordnete Todesurteile im Akkord zu vollstrecken.
Nicht selten damals tötete er ein Dutzend Menschen oder mehr an einem Tag oder an einem Wochenende. Hinrichtungen am Fließband, auch für ihn ein Novum. Und eine Herausforderung, die er wiederum meisterte. Wenn es ihm, zum ersten Mal, auch schwerfiel. Woche um Woche, Monat um Monat. Seinem Gewissen zusetzte und seine Seelenruhe auf die Probe stellte.
Da war es, sobald die Presse Wind vom Beginn der Aktion