Den Kopf hinhalten. Jens Rosteck

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Den Kopf hinhalten - Jens Rosteck

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die Taschen gefüllt; danach kehrte, mit im Schnitt nicht mehr als zehn Hängungen pro Jahr, wieder der Normalzu­stand ein. Die schon früher mal in liberalen Kreisen aufgeflammte und jetzt quer durch alle Bevölkerungsschichten immer hitziger geführte Debatte um Sinn und Abschaffung der Todesstrafe hatte in jüngster Zeit die Zahl der Hinrichtungen noch weiter gedrückt – eine beängstigende Entwicklung, zumindest für die Beauforts. Schlimmer noch: Wurde im letzten Moment einem Gnadengesuch stattgegeben, was meist auf Druck der Öffentlichkeit gestellt wurde, ging der Executioner völlig leer aus, obwohl er sich schon eigens für den Vollzug der Strafe in eine andere Stadt begeben hatte – und obwohl er absolut nichts für diesen Sinneswandel der öffentlichen Meinung und der zuständigen Gerichtsbarkeit konnte. In diesem Fall waren zwei ganze Tage futsch, und es wurden nur Auslagen zurückerstattet, so wie erst neulich wieder, im zurückliegenden Monat Mai. Als er aus Pentonville unverrichteter Dinge und mit leeren Taschen zurückreisen musste.

      Minuten nur bevor er die Todeszelle betreten hätte, hatte ihn ein Angestellter der Staatsanwaltschaft kurz und bündig darüber unterrichtet, dass man dem Antrag auf Begnadigung gefolgt sei und die ursprüngliche Todes- in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt habe. Kein Tod: kein Lohn. Dann hatte im Pub für fast achtundvierzig Stunden eine Arbeitskraft weniger zur Verfügung gestanden, ohne dass ein finanzieller Ausgleich dafür geschaffen werden konnte, und die ausgefallenen Einnahmen im Rose & Crown standen in keinem Verhältnis zum Almosen, das Rupert für eine ausgefallene Hängung zugestanden wurde.

      Nicht einmal ein Wort des Dankes oder des Bedauerns hatten die hohen Herren für ihn gefunden. Beim bloßen Gedanken an diese Schmach kochte gleich wieder die Wut in ihm hoch.

      Gleich nach seiner Rückkehr nach Much Hoole hatte er, enttäuscht und frustriert, an die Kommission geschrieben und sich in seiner Beschwerde, Bezug nehmend auf den Vorfall in Pentonville, bitter beklagt. Höflich und zuvorkommend, aber auch selbstbewusst und bestimmt. Sein erster Brief überhaupt nach seinem erfolgreichen Bewerbungsschreiben, das er damals noch als junger Mann an die Behörden gerichtet hatte. An seine jahrelange Treue und guten Dienste hatte Rupert erinnert, darauf gepocht, gefälligst respektvoll behandelt zu werden, darauf hingewiesen, wie sehr sich in letzter Zeit – zu seiner und ihrer Bestürzung – die Gnadengesuche gehäuft hätten, und sodann die volle Bezahlung eingeklagt. Ohne Abstriche.

      Woraufhin sich eine längere, ziemlich unerfreuliche Korrespondenz entspann, in deren Folge er zwar nicht seinen Forderungen entsprechend entlohnt wurde, man ihm jedoch wenigstens mehr als nur die ursprünglich ausgezahlten, vom Gesetz vorgesehenen Spesen zukommen ließ. Das Vierfache des von Pentonville angebotenen Satzes bekam er nun, gewiss, aber noch immer nicht einmal ein Drittel seiner üblichen Bezahlung. Ein fauler Kompromiss.

      Ruperts Unzufriedenheit war mit diesem Zugeständnis nicht verflogen. Und er war sich fast sicher, in Zukunft nie wieder etwas aus London oder Manchester zu hören, zur Strafe womöglich sogar von der berüchtigten „Liste“ gestrichen zu werden, der Liste einsetzbarer Vollzugspersonen, die aus Assistenten und Chief Excutioners bestand und die er jahrelang unangefochten angeführt hatte. Mit seinem klangvollen, ungewöhnlichen Namen.

      Einem Namen, mit dem man sofort eine ganze Dynastie von Henkern verband, einem Namen, der einer Qualitätsmarke gleichkam. Zu groß war wohl die Unverschämtheit gewesen, die er in den Augen der Königlichen Kommission begangen hatte, zu weit hatte er sich vorgewagt. Und es sich vielleicht für immer verscherzt.

      Als dann jedoch letzte Woche ein erneuter Befehl auf dem Kaminsims bereitlag, einschließlich der Aufforderung, sich heute in Wandsworth einzufinden und wie gehabt nach bestem Wissen und Gewissen ein Todesurteil zu vollstrecken, tat man auf beiden Seiten scheinbar so, als wäre nichts vorgefallen. Überging den peinlichen Zwischenfall. Das wollte etwas heißen.

      Sie wissen schon, was sie an mir haben, hatte Rupert im Stillen frohlockt, ohne dabei den Mund aufzumachen, als er das zerknitterte Blatt Papier in seine Jackentasche stopfte und Ruth einen wissenden Blick zuwarf. Gut gemacht, schien sie ihm zu erwidern, auf meine Unterstützung kannst du rechnen. Als er dann am Folgetag den Pub aufschloss, stand Ivins schon lauernd vor der Eingangstür. Platzte fast vor Stolz, wusste Bescheid, fühlte sich als Komplize. Und Ivins, indem er Rupert jetzt erst recht für einen Auserwählten hielt und sich selbst für Beauforts engsten Kameraden, Ivins strahlte über beide Backen.

      Träumte Ruth? Das hatte Rupert sich schon oft insgeheim gefragt, sie aber nie ausdrücklich zu fragen gewagt. Wie stand es um sie? Bereiteten ihr seine Aufträge oder sein Ruf als kaltblütiger, emotionsloser Vollstrecker eigentlich regelmäßig Albträume oder zumindest ab und zu schlaflose Nächte? Setzten diese Vorgänge ihr, der exklusiv Eingeweihten, zu, versetzten sie sie gar in Panik?

      Falls ja, hatte sie sich nie etwas anmerken lassen und auch nichts erwähnt. Und wenn Rupert nachts selbst einmal wach lag, hatte er sie betrachtet, wie sie, tief in die Kissen eingesunken, friedlich ruhte, und minutenlang ihre regelmäßigen, tiefen Atemzüge studiert.

      Keinerlei Anzeichen von Unruhe, Besorgnis oder echter Furcht. Nichts als tiefe Entspanntheit. Zu seiner großen Erleichterung. War sie jemals schweißgebadet vor dem Morgengrauen aufgewacht oder hatte sich, von Angstzuständen geplagt, an ihn geklammert? Hatte sie ihn jemals darum gebeten, sie zu beschützen? Rupert konnte sich nicht daran erinnern. Wann immer sie sich an ihn schmiegte, schnurrend wie ein Kätzchen, dann stets, um ihre Bereitschaft zum Beischlaf zu signalisieren. Um auf ihre Begierde hinzuweisen, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Was selten genug der Fall war.

      Wovon träumte Ruth, was ging in ihr vor? Das fragte er sich auch heute wieder, als er sich den Mund mit der Serviette abtupfte, vom Tisch aufstand, die Hände wusch und seine Schritte in Richtung Haustür lenkte. Es war kurz vor elf. Sie brachte ihn nach draußen, um ihn zu verabschieden und ihm viel Glück zu wünschen. Sagen musste sie das nicht eigens. Aber Rupert konnte ihre Worte dennoch hören. Die Intensität, mit der sie ihn anschaute, unverwandt und fast flehend, ihre fließenden Bewegungen beim Abräumen, die alle nur auf ihn gerichtet zu sein schienen, die Art, wie sie ihm ein flüchtiges Küsschen auf die Wange drückte, als beide den Gartenzaun erreicht hatten, verrieten ihm, dass er sich für immer und ewig ihrer Unterstützung gewiss sein konnte. Mit jeder Faser ihres Herzens liebte sie den Wirt und den Mann in ihm, und sie konnte auch mit dem Henker in ihm leben. Dessen war er sich immer sicher gewesen, heute indessen mehr denn je. Wohl auch, weil er ihre Zuversicht heute mehr denn je benötigte. Es war offenbar doch ein ganz besonderer Tag.

      Er nahm sie in den Arm, nicht länger als nötig, denn die Nachbarn schauten zu und würden sofort registrieren, dass er heute wieder einmal früher als sonst das Haus verließ und an der Straßenecke auf den Überlandbus nach Preston wartete, anstatt wie sonst am Nachmittag mit dem Wagen Besorgungen zu machen und seine Einkäufe dann zum Pub zu fahren. Plötzlich sagte Ruth doch etwas. „Man sollte meinen“, bemerkte sie und ließ ihn ihre Körperwärme spüren, „deine Euphorie habe sich in den Jahren ein wenig verflüchtigt. Und doch freust du dich heute wieder wie ein kleiner Junge, nicht wahr?“ Zuweilen hatte sie diese etwas merkwürdige Gewohnheit, sich hochtrabend auszudrücken und ihre Worte sorgsam zu wählen. Sie behauptete oft, eine literarische Ader zu besitzen. Und überhaupt für alles Musische empfänglich zu sein. Wer konnte schon mit Sicherheit sagen, ob das wirklich zutraf?

      Rupert stimmte ihr zu. Sie hatte nicht unrecht: Er konnte es in der Tat kaum noch abwarten, auf Reisen zu gehen. Und seine Pflicht zu tun. Die Lust am Hängen, die Lust am Strafvollzug war wieder zu ihm zurückgekehrt. Schon beim Aufstehen hatten sich elementare Bedürfnisse bei ihm zurückgemeldet. Gleichzeitig fiel ihm unwillkürlich auf, nicht zum ersten Mal, dass Ruth neuerdings wieder zur Üppigkeit neigte. Während Rupert, wie sie spöttisch und mit weit weniger anspruchsvollen sprachlichen Wendungen befand, wenn sie abends im Bad nebeneinander standen, seltsamerweise aus nichts als Haut und Knochen zu bestehen schien. „Mein hagerer Hund“, gurrte sie, lachte schelmisch auf, und Rupert feixte.

      Dürr, das stimmte, dürr war er schon. Schlaksig und

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