Den Kopf hinhalten. Jens Rosteck

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Den Kopf hinhalten - Jens Rosteck страница 10

Den Kopf hinhalten - Jens Rosteck

Скачать книгу

und Howard Phelps hatten bislang immer richtiggelegen, sie waren ein perfekt eingespieltes Team.

      Rupert betrachtete den Todeskandidaten, der ihm den Rücken zukehrte, und ließ sich dabei Zeit. Der Mann, schlank, lockiges Haar, hochgewachsen und mit einem ungewöhnlich großen, fast kantigen Kopf, saß am Tisch, kerzengerade und bewegungslos, in die Lektüre eines Buches vertieft, vor ihm ein Stapel länglicher, großer Bände, von denen der oberste aufgeschlagen war. Als Rupert die Augen zusammenkniff und genauer hinschaute, meinte er eine mit kleinen schwarzen Zeichen und Punkten übersäte Partitur zu erkennen. Noten also – für ihn nichts anderes als Hieroglyphen. Die Wärter saßen hinten in der Ecke, sprachen halblaut untereinander und zeigten sich gegenseitig irgendetwas in einer Sportillustrierten. Beaufort bedauerte, dass er das Gesicht des Delinquenten nicht sehen, dessen Züge nicht studieren konnte. Etwas an dessen ruhiger Haltung beeindruckte ihn. Der hier wirkte nun wirklich nicht, als fürchtete er sich davor, in wenigen Stunden gehängt zu werden. Der konnte sich beherrschen. Dessen elegante Hände fielen ihm auf und seine südländische Erscheinung. Kultiviert wirkte er, nobel. Fromm eher nicht. Kein Gangster oder gewöhnlicher Ganove.

      Howard hatte Rupert den Vortritt am Judasauge gelassen, nun trat er selbst beiseite, damit auch der Jüngere sich ein Bild von dem Hinzurichtenden machen konnte. In Gedanken errechnete er bereits die bei der Vollstreckung benötigte Fallhöhe, damit der Long Drop, wie man in England das kalkulierte, jeweils neu festgelegte Herabstürzen durch die sich nach unten öffnende, in der Mitte geteilte und in zwei Richtungen oder Hälften auseinanderklappende Falltür nannte, erfolgreich zum Einsatz gebracht werden konnte. Dadurch war das Ersticken bei gleichzeitiger Bewusstlosigkeit quasi garantiert, und ein qualvoller, in die Länge gezogener Würgetod war damit ausgeschlossen.

      The Long Drop, einst von William Marwood, dem Urahnen der modernen Henker, erdacht: die humanere und bei Weitem beste, von Fachleuten bevorzugte Methode, weil der verantwortliche Henker für jeden Verurteilten individuelle Maße zur Anwendung kommen ließ, anstatt sich ohne Rücksicht auf die Besonderheiten jedes Einzelnen mit einem mittleren Standardwert für alle zu Hängenden zu begnügen – so wie es früher, zum Leidwesen seiner Vorgänger, der Fall gewesen war.

      Howard schob den Riegel wieder vor den Spalt, entfernte sich von der Zelle und stellte lapidar fest, als beide wieder außer Hörweite waren: „Der wird uns keine Scherereien bereiten, da bin ich mir sicher. Der hat die Ruhe weg.“

      Und erwähnte dann noch, dass der Mann Magazzano heiße und, obwohl italienischer Herkunft, hier aus London sei.

      Rupert nahm es zur Kenntnis.

      Die nächsten zwei Stunden verbrachten sie im Schweiße ihres Angesichts mit der mehrmaligen Hängung eines Dummys, einer Gliederpuppe in Menschengestalt, deren Gewicht und Länge veränderbar war und die sie untereinander als „Strohmann“ bezeichneten. Sie überprüften das Alter, die Qualität und die Straffheit des Seils, auch dessen Durchhaltevermögen, bereiteten die Schlinge vor und tasteten danach den Lederriemen ab, den man bei dem Unglücklichen unterhalb des linken Kieferknochens anbrachte. Damit wurde ein präziser Genickbruch ermöglicht: durch die Fraktur mehrerer Nackenwirbel und die Kompression wichtiger Schlagadern – sowohl der Kopf- als auch der Wirbelsäulenarterie.

      Ferner prüften sie den Mechanismus des Hebels, mit dem das Öffnen und Auseinanderklappen der Falltür ausgelöst wurde, schauten sich die am Hebel angebrachte Sicherheitsverriegelung genau an, um festzustellen, ob sie auch wirklich funktionsfähig war, inspizierten die Holzscharniere an der Falltür, um sicherzugehen, dass sie nicht morsch oder wurmstichig waren, und begaben sich zuletzt in den dunklen Raum unterhalb der Schreckenskammer, in dem ein Amtsarzt den augenblicklich eingetretenen Tod bestätigen und der Gehenkte bedauerlicherweise noch genau eine Stunde lang allein weiterbaumeln würde. So lautete die Vorschrift, so wurde es seit Jahrzehnten gehandhabt.

      Bis Beaufort den Leichnam endlich vom Strang nehmen, waschen und in einen bereitstehenden Sarg betten konnte. Phelps hatte, wiederholt und ernst gemeint, auch bei diesem letzten Arbeitsgang seine Unterstützung angeboten, aber für Rupert war es Ehrensache, sich persönlich um diesen toten Straftäter, der für ihn immer noch und trotz allem ein Mensch blieb, zu kümmern und für einen würdigen Abschied von dieser Welt zu sorgen.

      Die Größe der Schreckenskammern – mit ihren fast identischen Gerätschaften – variierte von Stadt zu Stadt und Gefängnis zu Gefängnis, aber es waren durchweg außerordentlich kleine, beängstigend enge Räume. In denen höchstens drei, vier Leute aufrecht stehend Platz hatten. Der Assistent, dem das Fesseln der Beine des ihm Anvertrauten oblag und auch die präzise, parallele Positionierung von dessen Füßen an zwei genau markierten Stellen auf je einer geschlossenen Klappe, musste sich in Acht nehmen, nicht mit dem Gehenkten in die Tiefe zu stürzen, weil er, wenn der Chief Executioner ohne Vorankündigung den Hebel betätigte, sich nicht rechtzeitig oder vollständig vom Klappenbereich zurückgezogen hatte. Das war in der Vergangenheit mehrfach vorgekommen, jedes Mal ein grotesker und auch peinlicher Vorfall – zumal sich der Assistent dabei verletzen, den Verurteilten, ohne es zu wollen, in einer ungeschickten Umarmung begleiten und somit die einwandfreie Durchführung der Hinrichtung gefährden konnte. Howard und Rupert, die jeden Gegenstand im Raum kritisch begutachtet hatten und jegliches Missgeschick von vornherein ausschließen wollten, war das noch nie passiert.

      Am nächsten Morgen dann, etwa eine halbe Stunde vor der angesetzten Hängung, würden die beiden Männer den gesamten Vorgang noch einmal durchexerzieren – um sicherzustellen, dass alles perfekt vorbereitet war und einwandfrei durchgeführt werden konnte.

      Nun konnten sie sich einstweilen zurückziehen. Das Anstrengendste lag hinter, das Schlimmste noch vor ihnen. Sie wurden – wie auf Verabredung – gesprächiger und gelöster, lachten öfter. Es war noch früh am Abend, sie legten ihre Jacketts ab, lockerten ihre Krawatten und warteten auf das Abendessen, das ihnen ein uniformierter Wärter in den nächsten Minuten vorbeibringen und servieren würde. Rupert war hungrig; die lange Anreise, seine neu erwachte Zuversicht und die Vorbereitungen, die zu seiner größten Zufriedenheit abgelaufen waren, hatten zusätzlich appetitanregend gewirkt.

      Auf einmal sprang die Tür auf, ohne Vorankündigung, in deren Rahmen jedoch nicht der Essensbote, sondern Direktor Lurie höchstpersönlich erschien, etwas außer Atem und sichtlich freudig erregt. Oder vielmehr irritiert. Die beiden Männer fuhren herum.

      „Dem Italiener wird ein Klavier geliefert“, stieß er hervor und schien es selbst noch nicht richtig zu glauben, „in seine Zelle. Das war sein letzter Wunsch. Befehl von höchster Stelle“, setzte er mit bedeutungsvoller Miene hinzu und hob die Augenbrauen, „es müsste gleich so weit sein. Für das Heranschaffen zahlt er persönlich. Ich gestehe, ich war verwundert“, er machte eine kurze Pause, „ich … nun, ich habe nichts dagegen einzuwenden gehabt.“

      Rupert und Howard starrten sich verblüfft an. Sie waren erst einmal sprachlos. So etwas hatte es noch nie gegeben. Extrawürste waren, das war ungeschriebenes Gesetz, ausgeschlossen. Normalerweise jedenfalls. Gefangene hatten, außer speziellen Menüwünschen und der ominösen letzten Zigarette am Morgen, einfach nichts zu wollen. Eine solche Wendung, erst recht so kurz vor der entscheidenden Nacht, hatte Beaufort in all den Jahren nicht erlebt.

      War die Entscheidung im Ministerium getroffen worden? Oder von Regierungsstellen, am Ende gar im Königshaus? Und wieso erst jetzt, nach Dienstschluss, wenn im Prinzip niemand mehr in den Behörden erreichbar war?

      „Um ehrlich zu sein“, meinte Lurie dann, als könnte er Ruperts Gedanken lesen, „man hat mir keine Wahl gelassen. Mir waren die Hände gebunden. Nehmen wir die Dinge so, wie sie sind. Und nun“, er blickte in die Runde und versuchte, seine Fassung wiederzugewinnen, „wünsche ich Ihnen guten Appetit und“, wieder pausierte er, „gute Abendunterhaltung. Genießen Sie die Darbietung. Schlafen Sie gut.“

      Alles war wie immer, bis vor einer Minute.

Скачать книгу