Den Kopf hinhalten. Jens Rosteck

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Den Kopf hinhalten - Jens Rosteck

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voll. Junge Frauen in Petticoats, die sich schick gemacht und die Haare toupiert hatten, standen sich dort die Beine in den Bauch.

      Das Taxi bog in eine Seitenstraße ein, musste einmal scharf an der Kreuzung bremsen, um einer älteren Dame den Vortritt zu lassen, ließ einen belebten Park, Clapham Common, und ein verwaistes Cricketfeld rechts liegen und verlangsamte schließlich seine Fahrt.

      Rupert vergewisserte sich, bevor er das Auto verließ – denn nur drinnen war er in Sicherheit: Noch waren weit und breit keine Demonstranten oder Fanatiker zu sehen, keine Transparente, noch waren keine Trillerpfeifen oder wütenden Gesänge zu vernehmen.

      Menschenleer lag der abweisende Platz vor Portal und Haupt­eingang vor ihm, dahinter die große steinerne Festung mitsamt Barrikaden, wehenden Fahnen, Wappen, winzigen vergitterten Fenstern. Gewitterwolken brauten sich über der Fassade zusammen. „Welcome, Rupert“, sagte er zu sich selbst, und dann brach er in Schweiß aus.

      Vor dem Gefängnistor beim Aussteigen würdigte ihn der Chauffeur keines Blickes, hielt ihm am ausgestreckten Arm missmutig die Aktentasche hin. Bildete er es sich nur ein, dass er von ihm angeknurrt wurde?

      Er hörte etwas genauer hin. Ja, kein Zweifel: Hier wollte einer Stunk machen. Hatte der Mann etwas gegen ihn? Grollte er oder zählte er zu seinen erklärten Feinden? Welche Laus war ihm nur über die Leber gelaufen?

      „Thank you, Sir“, brachte der Alte dann mühsam hervor, verbeugte sich unmerklich und unterdrückte seinen Unmut, als Rupert ihm die Münzen einzeln in die Hand zählte. Presste die Lippen zusammen, so als würde jemand versuchen, ihm Gift einzuflößen. Viel hätte nicht gefehlt, und er hätte ausgespuckt oder das Geld auf die Straße geworfen.

      Rupert entschied, das ungebührliche Betragen des Mannes nicht auch noch mit einem Trinkgeld zu belohnen.

      Er hielt inne und nahm die Haftanstalt in den Blick. Merkte, wie vertraut ihm gleich wieder alles war. Der Stacheldraht, die Scheinwerfer, die auf und ab patrouillierenden Wachen, die Schäferhunde mit Maulkorb. Die Abwesenheit von Passanten und spielenden Kindern. Die tödliche, gespenstische Stille. Sein Zuhause, sein Revier.

      Er drückte den Rücken durch und schien über sich hinauszuwachsen. Der gute alte Henderson stand schon bereit, tippte zum Gruß an die Mütze, lächelte knapp.

      Alles war wie immer.

      Seite an Seite mit Henderson durchschritt Rupert die ellenlangen Flure, nahm zuvor kurz vom Büropersonal Notiz, das sich zu seiner Begrüßung im Eingangsbereich versammelt hatte, und ließ sich eine Sicherheitstür nach der anderen von Henderson aufschließen.

      In jenen Zellen, die vom Innenhof nur durch Gitter abgetrennt waren und nicht durch Wände, standen die Gefangenen Spalier und verfolgten ihn mit den Augen. Keiner muckste sich, niemand erhob die Stimme. Alle wussten genau, wer hier zu Besuch kam und was sein Erscheinen zu bedeuten hatte. Als der Bedienstete und er, vom Erdgeschoss in den dritten Stock gelangt, nach etlichen Minuten endlich im Sicherheitstrakt angekommen waren, standen wie üblich schon der Gefängnisdirektor, Mister Lurie, jemand vom Justizministerium, ein kleiner Beamter, und ein Vertreter der Staatsanwaltschaft, ein hohes Tier, dessen Namen er sich nie merken konnte, bereit.

      Und Howard natürlich, ein Mittdreißiger aus Leeds, Howard Phelps, sein treuer, zuverlässiger Assistent, der ihm nun schon seit vielen Jahren zur Hand ging. Und ihn jetzt mit einem breiten Grinsen empfing.

      Man war unter sich in dieser Männerrunde, man kannte sich. Alles war eingespielt, man konnte getrost zur Routine übergehen. Hände wurden geschüttelt, knappe Begrüßungen ausgetauscht.

      „Schön, dass Sie mal wieder bei uns sind, Beaufort“, sagte der Gefängnisdirektor mit unverstellter Freundlichkeit zu ihm und sah ihn dabei direkt an, eine Spur zu lang vielleicht. Eine Anspielung auf die dumme Angelegenheit in Pentonville? Rupert hatte nicht den Eindruck.

      „Sie wissen ja, was zu tun ist“, fuhr der ältere, ehrwürdige Herr fort, auch er nicht in Uniform. „Ratschläge benötigen Sie nun wirklich nicht.“

      Er nickte Rupert anerkennend zu, gab ihm zu verstehen, wie sehr er es schätzte, dass der Executioner sich hier bestens auskannte, hielt inne – fiel ihm noch etwas ein? – und räusperte sich.

      „Wir sehen uns dann morgen früh.“

      Lurie verabschiedete sich gleich wieder. Der Priester und die beiden Wärter, die während der Prozession zu beiden Seiten des Sträflings mit ihm von der Todeszelle in die unmittelbar benachbarte Schreckenskammer schreiten würden, waren noch nicht anwesend. Sie würden erst im Morgengrauen dazustoßen und dann zwei Kollegen ablösen, die den Vortag und die Nacht mit dem Verurteilten verbrachten. Oft waren sie es, mit denen der Unglückliche Zigaretten rauchte und palaverte, seine Henkersmahlzeit zu sich nahm. Oft waren sie es, die am meisten von ihm erfuhren, seine Nöte, seine letzten Geheimnisse, die seine Verzweiflung und seine Tränen zu sehen bekamen, manchmal auch seine Reue, seine tiefe Bestürzung.

      Oft waren sie es, die nach der Todeshandlung Mühe hatten, die Fassung zu bewahren. Vielleicht, weil sie dem zum Sterben Verdammten so verdammt nahe kamen. Und als Vorletzte dessen Körperwärme gespürt hatten, die dann auf einmal nicht mehr da war, wie weggezaubert.

      Rupert teilte sich mit Howard eine Zelle, eine Etage höher. Mit einem Waschbecken sowie zwei Feldbetten ausgestattet und recht komfortabel, „unser Wohnzimmer“, witzelten sie, ihr Living Room. Wenn Phelps auch die Angewohnheit hatte, fürchterlich laut zu schnarchen. Für ihr leibliches Wohl würde gesorgt sein. Oft sogar war das Essen, das man ihnen hochbrachte, erstklassig und stammte gar nicht aus der Gefängniskantine. Woher genau und wer dahintersteckte, blieb ihnen verborgen: ein unbekannter Gönner. Gewiss ein Förderer, ein Befürworter des Todes durch den Strang, dem es eine Herzensangelegenheit war, den Henkern ihren Arbeitstag so angenehm wie möglich zu gestalteten.

      Den angebotenen Alkohol lehnten sie kategorisch ab. „Hinterher“ genehmigte sich Howard, noch an Ort und Stelle, gern ein Bierchen oder einen Cognac, denn die Gefängnisleitung hielt immer ein paar hochprozentige Getränke und Erfrischungen bereit, sobald alle wieder außerhalb der Schreckenskammer waren; Rupert trank erst, wenn er und Howard die Haftanstalt verlassen hatten und vor der Heimreise noch irgendwo in London einkehrten. Meistens spielten sie am Vorabend Karten, unterhielten sich über dies und jenes und legten sich früh schlafen. Um bei Tagesanbruch fit und hellwach zu sein.

      Die größte, anstrengendste Arbeit kam aber jetzt: die Generalprobe. Die Simulation. Das genaue Durchspielen der morgigen Hängung. Wichtiger noch als die Tötung selbst, wie Rupert gern betonte, auch wenn das, wie er an Howards ausbleibender Reaktion sehr wohl bemerkte, immer etwas oberlehrerhaft wirkte.

      In einem ersten Schritt schob Rupert einen Riegel beiseite, ganz leise, um keinen Lärm zu verursachen, und blickte durch ein längliches Peeploch, ähnlich dem Spion an Wohnungstüren, nur dass es ein sehr viel genaueres Studium des dahinterliegenden Raumes ermöglichte, in die Todeszelle. Ohne dass der Gefangene das wusste. Und möglichst auch nicht mitbekam. Judas­auge, so nannte man in der Henkerszunft diesen Spalt. Das war immer der entscheidende Moment: den Delinquenten taxieren, in Augenschein nehmen, beobachten und sein Verhalten analysieren. Seine Nervosität oder Gefasstheit einschätzen. Seine etwaige Gewaltbereitschaft in Betracht ziehen. Seine Größe und sein Gewicht überprüfen. Und davon ausgehend beurteilen, welche Fallhöhe benötigt wurde, welche Stricklänge.

      Dabei kam es auf jeden Inch an. Verschätzen durfte man sich dabei nicht. Jede Fehlkalkulation würde beim Fallen eine qualvolle Strangulation des zu Hängenden nach sich ziehen, die mehrere Minuten dauern konnte und einer Folter gleichkäme, im schlimmsten Falle seine ungewollte Enthauptung. Das wäre dann eine verpfuschte

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