Den Kopf hinhalten. Jens Rosteck

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Den Kopf hinhalten - Jens Rosteck

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er stellvertretend für die Richter und Geschworenen, für die Ankläger und Verteidiger, für die grundlos Hingemeuchelten und Bestohlenen, für die Erschlagenen und Betrogenen verkörperte. Ihnen zeigen, dass es eine Moral gab, der niemand entrinnen konnte. Damit der oder die andere noch einmal einem Menschen aus Fleisch und Blut begegnete, einem Menschen wie Du und Ich, auch wenn dieser Mensch, den man Henker nannte, ihm oder ihr gleich das Liebste wegnehmen würde. Rupert würde alle Zuneigung, derer er fähig war, bei diesem Anschauen zum Ausdruck bringen. Und zu erkennen geben, dass er den Leib des anderen nicht anrühren und seine Seele unversehrt lassen würde. Dass er lediglich dazu da sei, um den Übergang vom Leben zum Tod herzustellen und den Schmerz zu lindern. Dem anderen sein Vertrauen schenken. Ihn bitten, sein Schicksal doch gefälligst in seine kundigen Hände zu legen. Ihn um sein Einverständnis ersuchen, ihn nebenan aus der Welt schaffen zu dürfen.

      Nahezu immer erhielt Rupert dieses Einverständnis auch. Und heute? Er schaute den Italiener, der genau so ruhig dastand, wie er gestern an seinem Tisch mit den Partituren gesessen hatte, direkt in die Augen.

      Was er darin las und sah, war das Erwartete: Der Pianist erteilte ihm die Erlaubnis.

      Bat ihn um Erlösung.

      Gab sich ihm hin.

      Als sich ihre Blicke begegneten, durchfuhr ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Er hatte diesen Magazzano schon einmal gesehen.

      Und da wusste er, so wie man einfach weiß, dass es Sommer und Winter gibt, er wusste mit unumstößlicher Bestimmtheit:

      Dieser Mann war kein Verbrecher.

      2

       Zwei Blicke – und die Liebe

      bricht aus

      

      Immer wenn ich an diesen so besonderen Frühling denke, befällt es mich von Neuem: das überwältigende Bewusstsein der Befreiung. Diese Erleichterung, einem goldenen Käfig entkommen zu sein. Immer wenn ich mir diese Märztage in Erinnerung rufe, als ich allein in Paris sein durfte, als die Stadt mir und ich ihr gehörte und niemandem sonst, steigt es wieder in mir auf: dieses Gefühl, neugeboren zu sein.

      Neugeboren – das sagt sich so leicht dahin, das verwendet man oft, ohne es wirklich zu meinen. Aber auf mich traf es in vollem Umfang zu: Endlich, das erste Mal seit meiner Kindheit in Ligurien, das erste Mal seit meiner geraubten Jugend, das erste Mal seit meinen Studienjahren in Mailand und das erste Mal seit meiner Knechtschaft als Musiker und Künstler, war ich ganz allein. Wochenlang. Die reinste Wonne.

      Ja, allein. Nicht etwa einsam, verlassen oder verloren, sondern für mich. Nur für mich. Aus den Fängen eines besitzergreifenden, herrschsüchtigen Menschen befreit, der alles darangesetzt hatte, mich zu verunsichern, mich ans Klavier zu ketten und mir Unselbständigkeit einzureden. Aus den Klauen einer hartherzigen, ehrgeizigen Frau, die mich zuerst aufgebaut und zum Virtuosen gemacht, mir dann den eigenen Willen ausgetrieben, mich mit Disziplin traktiert und später nach Lust und Laune beeinflusst hatte.

      Bis zu diesem unvorhersehbaren Moment, in dem Brenda in unserem Pariser Hotel eine äußerst wichtige Nachricht erhielt und, ohne mich, überstürzt nach London zurückreisen musste, hatte ich es zugelassen, eine Existenz als ihr wohlhabender Sklave zu fristen. Als Vorzeigekünstler mit perfektem Anschlag und ohne echte Persönlichkeit. Auch als ihr Gatte: teilnahmslos und blass. Ein Gatte, der das in ihn investierte Geld wiedereinspielte und auch noch Gewinn machte, der sich nach Herzenslust auspressen ließ und ansonsten artig den Schnabel hielt. Von Luxus umgeben und unglücklich. Identitätslos. Von ihr, meiner Impre­saria, eingeengt, voller Hemmungen.

      Auf einmal, es bedurfte lediglich einer Ausgangssituation, mit der vorher nicht zu rechnen war, auf einmal ging es eben doch. Es funktionierte: Ich erwachte, wie man aus einer Narkose erwacht. Ich erwachte und war sogleich voller Tatendurst. Ich erwachte, und ich kam zurecht. Ich gestaltete meinen Tagesablauf. Ich traf eigene Entscheidungen. Es war wie ein Aufbäumen. Ich entdeckte mich selbst. Ich war in der Lage, das Podium zu verlassen und wie ein erwachsener Mann zu handeln. Ich war fähig, Glück zu empfinden, ohne gelotst zu werden. Ich wurde zu einem neuen, mir selbst unbekannten Sandro. Erlöst war ich, auf Zeit wenigstens. Auf mich selbst gestellt, unabhängig.

      Paris hatte mich wachgeküsst.

      Ich, der Wahl-Londoner Magazzano, der sich aus einem Leben in London nichts machte, auch wenn es ein Leben im Schlaraffenland war, konnte nicht genug bekommen von diesen zarten Küssen à la française. Ich, der Italiener im Exil, der den südlichen Teint und die braun gebrannte Haut meiner Kinderjahre gegen die vornehme Blässe Britanniens und die versnobte Farblosigkeit von Westminster und Covent Garden eingetauscht hatte, spürte, wie das Blut wieder in meine Adern schoss, sobald die Lippen von Paris meine Wange streiften.

      Ich stand, überglücklich, im Zentrum Frankreichs: Stand auf dem Pont des Arts inmitten von anderen Flaneuren, die wie ich mehrmals täglich über die Brücke spazierten, um auf das andere Flussufer zu gelangen, sah unter mir die Lastkähne auf der Seine vorbeiziehen, erblickte die beiden dicht besiedelten Inseln, den Strom der Passanten, historische Gebäude und Museen, gewahrte die Turmspitze der Sainte-Chapelle, die ausladenden Seitenflügel des Louvre sowie die Fassade der altehrwürdigen Kathedrale Notre-Dame – und war frei.

      Mir stand die Welt offen. Und was für eine Welt! Eine milde Märzsonne wärmte mir das Herz. Ich wurde von Aufbruchstimmung erfasst. Ich vermochte es, mich selbst zu überraschen. Und es war eine wunderbare Fügung, dass mir die Freiheit genau hier, in der schönsten Stadt, die ich je gesehen hatte, zuteil wurde.

      I Love Paris pfiffen 1953 die Spatzen von den Dächern, Cole Porters neuen Sehnsuchtssong, und ich summte mit. Stellte mir dieselbe Frage wie der Sänger des Liedes: „Why do I love Paris? Because my love is near.“

      Die Antwort war schlicht, naheliegend, wundervoll. Die Antwort kam einem Versprechen gleich, einem Orakel. An dem vielleicht etwas dran war.

      Paris half mir auf die Sprünge: Das Schicksal hatte es so gewollt.

      Ich hatte schon in Sydney gastiert und in Budapest, in Chicago, Moskau und in Madrid. Ich war in Berlin aufgetreten und in Stockholm, in Marseille, in Tokio und in Warschau. In London, unserem ständigen Wohnsitz, wenn wir einmal nicht um den Planeten jetteten, besaß ich meine eigene Konzertreihe. Beim Edinburgh Festival leitete ich seit mehreren Sommern eine Masterclass für angehende Tastenlöwen. Selbst hier in Paris hatte ich in den vergangenen Jahren bereits unzählige Recitals bestritten und dabei doch nie mehr zu sehen bekommen als Theater und Festsäle, Proberäume und Schnürbörden, Garderoben und Hotelzimmer, die Büros von Veranstaltern, die Werkstätten von Klavierbauern und das Interieur teurer Restaurants. Dabei zählte ich zu den internationalen Spezialisten für französische Klaviermusik.

      Vom wirklichen Leben in der Metropole hatte ich nur kurze Blicke aus dem Taxifenster erhaschen können, auf dem Weg zum Flughafen oder nach der Ankunft am Bahnhof. Flüchtige Eindrücke, nichts von Dauer. Keine Freunde, keine spontanen Bekanntschaften. Einem echten Franzosen, einer waschechten Pariserin war ich nie begegnet. Eine einheimische Geliebte hatte ich nie besessen. Jetzt endlich bekam ich meine Chance. Jetzt konnte ich, ohne kontrolliert zu werden, die großen Boulevards entlangbummeln, zum Montmartre hinaufsteigen, eine schöne Unbekannte ansprechen, den Chansonpoeten Boris Vian Jazztrompete spielen hören, ein Spielzeugschiffchen auf dem Wasserbecken des Jardin du Luxembourg auf die Reise schicken oder mich auf der Terrasse der „Rhumerie Martiniquaise“ in Saint-Germain niederlassen und mir einen raffiniert gemixten Antillen-Cocktail bestellen.

      Drei Soloabende in der Salle Pleyel

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