Den Kopf hinhalten. Jens Rosteck
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Den Kopf hinhalten - Jens Rosteck страница 3
Wie er war Ruth ein Musterbeispiel an Verschwiegenheit. Dabei wusste er genau, dass sie alles wusste. Er wusste, dass selbstverständlich sie es war, die neulich den versiegelten Brief von der Gefängniskommission in Empfang genommen und ihn sogleich, wie sie es noch während der Kriegsjahre, gleich zu Beginn ihrer Ehe, stillschweigend vereinbart hatten, ohne Kommentar auf den Kaminsims gelegt hatte. Er wusste, dass sie wusste, was solche offiziellen Schreiben bedeuteten. Sie lagen da, damit er sie gleich sah, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. Von ihr platziert, wie ein Ausrufezeichen. Wie schon seine Mutter es bei seinem Vater und seine Tante bei seinem Onkel getan hatten. Um wortlos auf das Unabänderliche hinzuweisen.
Dutzende, Hunderte von Briefen, Telegrammen, Depeschen. Ungeöffnet hatten Ruth und ihre Leidensgenossinnen diese Schreiben dort hingelegt, ohne ihre Missbilligung kundzutun. Mit der Schreibmaschine getippte, im Behördenton verfasste Schreiben, die keine Worte der Zuneigung oder Anerkennung enthielten, nichts Persönliches. Schreiben, aus denen sich nichts vom bevorstehenden Grauen herauslesen ließ. Nur Daten, Termine, Floskeln, Anweisungen. Immer auf dem Kaminsims auf die Männer der Beaufort-Familie wartend. Und das ganze Leid der vorübergehend Alleingelassenen schon enthaltend, die sich nun ausmalen konnten, was sich während der Abwesenheit ihrer Gatten irgendwo da draußen im Lande abspielte. Was ihre Männer anstellten, zu welchen entsetzlichen Taten sie fähig waren. Fähig sein mussten. Als sei es ihnen vorbestimmt. Und doch befürworteten die Frauen diesen Dienst und die Geschehnisse, hießen sie gut, stärkten ihren Männern den Rücken, indem sie sie ihr Einverständnis spüren ließen.
Stumme Befehle waren diese Benachrichtigungen somit, Befehle, die einen Mechanismus in Gang setzten. Stumme Schreie, die tagelang in den Ohren der Ehefrauen gellten und das Blut ihrer Männer augenblicklich in Wallung brachten. Schreie, die an das Ehrgefühl dieser Männer und Frauen appellierten. Eindringlich, unbarmherzig, fatalistisch. Schreie wie dieser, der vorerst letzte in einer endlosen Reihe von Briefen. Anfang der vorangegangenen Woche war das gewesen.
Rupert hatte, als er ihn bei seiner Heimkehr mitten in der Nacht auf dem Sims entdeckt hatte, den Umschlag mit dem Finger aufgerissen, das Papier entfaltet und die kurze Mitteilung in wenigen Sekunden überflogen. Wandsworth, so lautete die entscheidende Information, die altehrwürdige Londoner Korrektionsanstalt. Wieder einmal Wandsworth, wo er sich auskannte wie in seiner Westentasche. Das Gefängnis Ihrer Majestät im Südwesten der Hauptstadt, das vor Kurzem, als noch nicht die blutjunge Elisabeth Königin, sondern der stotternde George König gewesen war, His Majesty’s Prison geheißen hatte.
Dort hatte er, wie er jetzt in Erfahrung brachte, als Chief Executioner einen Mann zu hängen, Mitte zwanzig, Italiener, klangvoller Name, künstlerischer Beruf, gutes Einkommen, keine Vorstrafen, Mord aus Leidenschaft.
„Ich fahre natürlich“, hatte er Ruth mit falscher Munterkeit zugerufen, und die Blicke der Eheleute hatten sich für eine Sekunde gekreuzt. „Nächsten Samstag.“
„Das heißt dann ja wohl, ich muss die Rose ganz alleine schmeißen“, hatte seine Gattin bloß entgegnet. Was nicht klang, als wäre die Aussicht auf diesen anstrengenden Abend gleich das Ende der Welt für sie. Und dann achselzuckend, aber nicht ohne einen bitteren Unterton, hinzugefügt: „Es sei denn, sie begnadigen ihn wieder.“
Rupert hatte eine Grimasse gezogen und gleichzeitig einen dumpfen Schlag in der Magengegend verspürt.
„Bloß nicht“, hatte er entgegnet, vernehmlich geseufzt und sich darangemacht, seine engen Schuhe aufzuschnüren, um sich vom langen Stehen im Lokal Erleichterung zu verschaffen.
Ruth hatte ihm dabei zugesehen. Wie damals, so überkam sie auch jetzt wieder, am Frühstückstisch, ein Gefühl der Zärtlichkeit. Nur zu genau wusste sie: Die Demütigung vom Vorjahr hatte er noch lange nicht verwunden.
Träumen, Wunschträumen anhängen und Fantasien durchspielen, das überließ er den anderen. Menschen, für die er seit Jahren den Helden spielte. Für die er der Rächer schlechthin war, einer, der für Wiedergutmachung sorgte. Von seinen glorreichen Taten ließ er schlichte Gemüter ruhig weiterträumen, die in ihm etwas Größeres, Bedeutenderes sahen, sehen wollten, dessen Glanz ein wenig auch auf sie abstrahlte. In erster Linie den Stammgästen in seiner Kneipe, die keinen Hehl aus ihrer Bewunderung für ihn machten. Und ihn wegen seiner biederen Manieren und Jovialität ungemein schätzten. Männer, die stolz darauf waren, jeden Abend nicht in irgendeinen, sondern in einen ganz besonderen Pub zu gehen, The Rose & Crown, einen Pub, wo eben er der Boss war, und sich bis zu einem halben Dutzend Pints zu genehmigen, einen Pub, dessen Pächter eine echte Berühmtheit war – die bloße Gegenwart des Pächters löste behaglichen Nervenkitzel bei ihnen aus.
Allen voran Stuart, sein treuer Kumpel noch aus den Tagen, als beide als Lieferanten arbeiteten und schwer anpacken mussten, Stuart Nicholson, der am liebsten jede Einzelheit brühwarm von Rupert erzählt bekommen wollte. Wäre sein gefeierter Freund doch nur ein einziges Mal bereit, seine makabren Geheimnisse preiszugeben. Und dabei in puncto Horror noch mit Ausschmückungen und Übertreibungen ordentlich einen draufzulegen.
„Spuck’s aus, Rupert“, flüsterte ihm Stuart, schon zu früher Stunde leicht beschwipst, mehr als einmal pro Abend vertraulich zu, wenn Rupert gerade wieder von einer Dienstreise zurück war, „wie war’s in Liverpool? Alles gut gelaufen? Oder hat der arme Hund dir etwa Scherereien bereitet?“ Rupert lächelte vielsagend zurück, krempelte die Ärmel hoch und machte sich, eine dicke Zigarre im Mundwinkel, hinter dem Tresen zu schaffen.
Stuart versorgte den „Publican“, den Gastwirt Rupert, sobald er sich eine Schürze umgebunden oder nach dem Geschirrtuch gegriffen hatte, auch mit Neuigkeiten, die er entweder in der Zeitung gelesen oder beim Schwatz auf der Straße aufgeschnappt hatte – von Verbrechen, Eifersuchtsdelikten und Raubüberfällen, die sich im Umkreis von Manchester, im fernen London, in Wales oder Schottland, manchmal gar ganz in der Nähe zugetragen hatten.
„Das ist wohl wieder ein Kandidat für dich, alter Junge“, meinte er dann grinsend, „warten wir’s ab, ob die Geschworenen mitspielen.“
Nicht selten erwiesen sich Stuarts Prophezeiungen als durchaus zutreffend, und besagte Missetäter zählten dann tatsächlich zu jenen unglücklichen Sündern, an denen Rupert die verkündete Höchststrafe „Tod durch den Strang“ einige Wochen später vornahm.
Stuart, von kriminalistischem Ehrgeiz beflügelt, träumte nach eigener Aussage oft davon, Rupert begleiten zu dürfen, hautnah dabei zu sein, dem Todgeweihten in die Augen zu blicken und ein zusätzliches Geständnis mit vielen pikanten Informationen zu entlocken, wenn es sich – wie zumeist – um eine Eifersuchtstat, um eine Kinderschändung oder einen Raubmord mit vorheriger Vergewaltigung, wenn es sich um „sex and crime“ handelte.
Dann war da noch Burt, ebenso wissbegierig und detailversessen, der stundenlang auf dem verstimmten Klavier im Rose & Crown für beschwingte Hintergrundmusik sorgte, Burt Ivins mit vollem Namen, dem es größtes Vergnügen bereitete, mit flinken Fingern zu klimpern und einen Ragtime nach dem anderen zum Besten zu geben. Burt, der Rupert bei seinen beliebten Gesangseinlagen kurz vor der Sperrstunde mit unermüdlicher Begeisterung begleitete und dafür dann und wann von ihm ein Ale ausgegeben bekam – Burt war die Neugier selbst.
Erpicht waren Burt und seinesgleichen auf Schauergeschichten. Auf blutrünstige Anekdoten. Hätten nur zu gern als Fliegen an der Wand beim Hängen zugeschaut, erschreckt gestarrt, wenn der Gehenkte nach Öffnen der Falltür in die Tiefe fuhr, oder, wer weiß, womöglich gern einmal selbst Hand angelegt.
Rupert wusste nur zu