Blutgrätsche. Jürgen Neff

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Blutgrätsche - Jürgen Neff

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Schlossberg.

      Ja. Ich war 35 damals.

      Das Erste, was ich von ihr sehe, sind nackte Beine; Laubblätter kleben daran. Sie hat nur einen Schuh an. Knallroter Nagellack. Abgeplatzt. Warum trägt sie keine Socken in Turnschuhen? Ein Schneemann der Spurensicherung schießt Fotos von allen Seiten. Sie liegt auf dem Rücken, die Hände auf dem Bauch. Als würde sie schlafen. Kurze Jeanshosen, sehr kurz. Blut, viel Blut an den Beinen. Dann sehe ich das zerfetzte rot-blaue Shirt, noch mehr Blut, Tattoos, bekannte Motive, den Seidenschal, die blutverklebte blonde Mähne und dann … Scheiße.

      Es wirft mich unmittelbar zurück. In eine verlorene Zeit. Kurz bin ich ganz woanders, ringe nach Luft. Der Weißkittel macht noch immer Fotos, und ich möchte es ihm am liebsten verbieten. Nein. Eigentlich will ich ihm seine Scheißkamera aus den Händen reißen und sie ihm in die Fresse hauen. Mein Psychoonkel wird sich freuen, wenn ich ihm das nächste Mal davon erzähle.

      »Identität?«, fragt Schröter und holt mich wieder in die Gegenwart.

      »Katrin. Katrin Benzeler«, sage ich und Schröter starrt mich an. »32 Jahre alt.«

      »Du kennst sie?«

      »Ich kannte sie.«

      »Schon klar, Nina«, meint Schröter, der sich ebenso krampfhaft an seinem Kaffeebecher festhält wie ich. Mein ultrakorrektes Arztsöhnchen aus Norddeutschland ist kein Morgenmuffel. Aber diese Zeit scheint selbst für meinen neuen Partner Frederick Schröter zu früh.

      »Nein. Ich meine: Es ist schon Jahre her, dass wir uns kannten. Damals war ich noch jeden Sonntag auf dem Platz. Hier oben in der Voith-Arena oder beim Auswärtsspiel.«

      »Verstehe.«

      In meinem Kopf türmen sich Bilder, matt, wie hinter schmutzigem Glas. Brüllende Menschen in bunten Trikots, brennende Leidenschaft und bengalische Schlachtrufe. Mein Gott. Ferne Zeiten völlig nah.

      »Sie gehört zu den Societas. Den weiblichen Ultras. Wir haben sie Cat genannt.«

      »Ultras«, wiederholt Schröter, der, das weiß ich schon, von Fußball so viel Ahnung hat wie ich vom Wäschewaschen.

      »Daran gewöhnt man sich nie, oder?«, meint der weiße Tatort-Paparazzo, der näher zu uns getreten ist und sich hinkniet, um ein Foto von Cats rechtem Fuß zu schießen. Fällt mir schwer, sie bei ihrem Spitznamen zu nennen. Ich möchte sie zudecken, ihr Schutz geben. Ein bisschen Abstand schenken von fremden Leuten. Cat … Katrin wenigstens das bisschen Würde schenken, welches sie verdient hätte, das doch jedem Menschen zustehen sollte, wenn er seinen letzten Weg angetreten hat. Stattdessen lichtet der Paparazzo ihren zerschundenen Leichnam ab. Zentimeter für Zentimeter. Hochauflösend. Das Stück menschliches Fleisch, in dem meine Cat einmal drinsteckte. Und ich spüre, wie Wut in mir aufsteigt. »Brutalstfoul«, meint er. Das macht es nicht besser. Jetzt möchte ich ihm tatsächlich die Fresse polieren. Scheiße, Katrin!

      »Guten Morgen, Frau Schätzle«, sagt in diesem Moment eine bekannte Stimme hinter mir.

      »Du sollst mich nicht so nennen, Berti«, erwidere ich Robert Heinzel. Er ist der Leiter der Spurensicherung. Der Ton verrutscht mir. Bei normalen Leichenfunden geht mir das Herz auf, wenn ich Berti sehe. Mein SpuSi, wie ich ihn für mich gerne nenne. Jetzt aber … Berti blickt auf Katrin hinab, lange, dann sieht er zu mir auf. »Haben sie entsetzlich zugerichtet, unsere Cat.«

      Ich weiche seinem Blick aus. Warum spricht er im Plural?

      Ihr Gesicht hat kräftige Blessuren, der Körper ein paar blaue Flecken. Aber ich benötige keinen Fachmann, um die Todesursache zu erkennen. Es wurde mehrfach auf sie eingestochen. Ich spiele mit meinem Fingerstummel. Mir fehlt an der linken Hand das letzte Glied des kleinen Fingers. Wenn die Leute fragen, sage ich immer, es war ein Unfall. War es ja auch irgendwie. Ist eine längere Geschichte. Jedenfalls knete ich oft auf ihm herum, wenn ich ins Grübeln komme. Als »stummeln« bezeichne ich es gern.

      »War das Staging genau so?«

      »Wie bitte, was?«, kommt mir Berti zuvor.

      »Wurde sie genau so gefunden?«, korrigiert sich Schröter, und ich bin dankbar dafür, dass mein junger Kollege die Führung übernimmt. Auch wenn es eindeutig noch zu früh ist für die geschwollene Ausdrucksweise meines norddeutschen Partners. Ich muss das erst mal verarbeiten.

      »Nicht ganz«, erklärt mein SpuSi. »Der Schal war ausgebreitet über ihr Gesicht gelegt.«

      Schröter nickt nachdenklich, bekommt diesen Blick, den ich schon von ihm kenne. Sein Tatortscanner beginnt zu arbeiten. Versuch dich zu konzentrieren, Nina!

      »Also gut, Schröter. Beeindruck mich mit deiner Weisheit«, taste ich mich ungelenk an einen normalen Tonfall heran. Er reagiert nicht. In ihm läuft bereits sein Programm. Er ist gerade mal 35, noch nicht lange bei der Kripo, und ich weiß nicht, woher er das hat, aber er ist extrem gut im Lesen eines Tatorts. Nur wirft er dann immer mit solchen Fremdwörtern wie »Staging« um sich, was irgendwann anstrengend wird. Besonders um diese Uhrzeit. Ganz besonders bei dieser Toten.

      »Frage dich, wie der Täter den Leichnam ansah«, doziert er grübelnd. Das meine ich: Er gibt schlaue Sprüche von sich, die fast philosophisch klingen. Kämen sie aus dem Mund eines alten Mannes mit weißem Bart, würde ich jedes Mal zu Boden sinken vor Demut. Aber sie stammen eben von Schröter.

      »Und?«

      »Jedenfalls wurde die Szene nachträglich verändert. Er hat das Gesicht des Opfers verdeckt. Das könnte darauf hindeuten, dass er es kannte. Könnte eine Art emotionale Wiedergutmachung sein. Er will es ungeschehen machen. Darauf deutet auch die schlafende Haltung hin. So lag sie sicher nicht unmittelbar nach der Tat da.«

      »Klingt einleuchtend.«

      »Wurde sie vergewaltigt?«

      Ein Stich fährt mir durch den Hinterkopf.

      »Bisher deutet nichts darauf hin«, antwortet Berti in bitterem Ton. Vermutlich schmerzt sein Kopf ebenso wie meiner.

      Schröter glotzt wie eine Kuh auf dem Felde, brütet über der Szene wie Günter Netzer über der Spielanalyse. »Sieht das für euch nach einem geplanten Verbrechen aus?«

      Wir blicken uns an, keiner sagt etwas. Ich bin noch nicht da. Definitiv.

      »Ich glaube eher, es ist aus einer emotionalen Notlage heraus entstanden und wurde danach so für uns arrangiert.«

      Emotionale Notlage. Ist es das nicht immer? »Vermutlich hast du recht«, antworte ich dem Tatortphilosophen trotzdem. »Mehrere Messerstiche. Er war wütend und ist danach selbst über seine Tat erschrocken. Dann hat er das Gesicht der Leiche verdeckt, um ihr nicht mehr in die Augen sehen zu müssen.«

      Schröter nickt. »Könnte aber auch eine Anonymisierung sein. Vielleicht ging es gar nicht um sie als Person, sondern darum, eine beliebige Frau zu töten oder einen zufälligen Fan.«

      »Du meinst eine symbolische Tat: einen Heidenheim-Fan.«

      »Genau. War gestern ein Spiel hier?«, fragt Schröter, und ich und Berti glotzen ihn ungläubig an.

      »Ist nicht dein Ernst, oder?«, schnarre ich. »Gestern war DFB-Pokal, gegen Aalen.«

      Schröter sieht mich

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