Das Wasserkomplott. Jürgen-Thomas Ernst

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Das Wasserkomplott - Jürgen-Thomas Ernst

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Vespa los und saß eine halbe Stunde später neben ihrem Bett. Amandas Stirn war heiß und Schweißtröpfchen rannen ihr von den Schläfen hinab.

      »Ich könnte dich anstecken«, flüsterte sie heiser.

      Aber Fynn schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Sorgen. Ich habe keine Zeit, um krank zu werden.«

      Er saß bis zum späten Abend bei ihr am Bett und sagte auf einmal: »Ich bleibe heute bei dir.«

      Amandas Eltern stimmten zu und legten ihm eine Matratze ins Zimmer. So verbrachten Amanda und Fynn ihre erste gemeinsame Nacht. Am nächsten Tag besuchte er sie wieder. Er las ihr aus dem Roman vor, der auf dem Nachtkästchen lag, und brachte ihr Tee und Zwieback. Und wenn sie schlief, betrachtete er ihre kurzen schwarzen Haare, ihre dichten Brauen und die Lider, unter denen ihre Augen wild hin und her rasten.

      Amanda wurde rasch gesund. Jedes Mal, wenn sie Fynn in den folgenden Tagen und Wochen sah, klopfte ihr Herz wie wild, und wenn sie in seiner Nähe war, fühlte sie sich so geborgen wie in einem weichen Nest.

      »Ein Junge wie Fynn ist ziemlich selten«, sagte Amandas Mutter einmal. »So einen findest du nicht an jeder Straßenecke.«

      »Ich weiß«, hatte Amanda damals erwidert.

      »Jetzt musst du ihn uns aber auch genauer vorstellen«, erklärte Amandas Vater, der seit Jahrzehnten mit aller Leidenschaft als Volksschullehrer tätig war. »Bring ihn doch zum Essen mit.«

      Und so saßen sie eines Abends zu viert am Küchentisch. Fynn schwieg, weil ihm solche Anlässe unangenehm waren. Aber je später es wurde, desto entspannter fühlten sich alle. »Okay«, sagte Amandas Vater plötzlich. »Wir wissen von dir, dass du die Schule vor dem Abitur abgebrochen hast, in einer Textilfirma arbeitest und bei deiner Großmutter lebst. Und ich erzähl dir jetzt etwas über Amanda.«

      »Papa«, unterbrach ihn seine Tochter neckisch, die ahnte, was kam. »Das darfst du nicht.«

      Amandas Vater lachte schallend. Sein Lachen war so ansteckend, dass Amandas Mutter nicht anders konnte, als ebenfalls loszulachen, ohne genau zu wissen, was ihr Mann überhaupt so lustig fand. Am Ende lachten alle vier. »Also, Fynn. Amanda geht von der Schule nach Hause. Sie war vielleicht sechs. Es war Oktober. Sie sieht einen Baum und darunter liegen viele Nüsse. Sie füllt die ganze Schultasche damit. Auf einmal steht der Bauer vor ihr, dem der Baum gehört. ›Was machst du da?‹, fragt er sie. Und sie antwortet ganz ruhig: ›Ich sammle Nüsse.‹ – ›Das darfst du nicht. Das ist Diebstahl.‹ – ›Doch, doch, das darf ich. Mein Vater ist Pfarrer.‹ – ›Pfarrer?‹ – ›Ja, Pfarrer.‹ – ›Katholisch oder evangelisch?‹ – ›Ist doch egal. Hauptsache, er erlässt mir meine Sünden.‹« Alle prusteten los vor Lachen.

      »Papa, das ist nicht fair«, rief Amanda, während ihr die Lachtränen in den Augen stiegen.

      »Ich hätte da noch eine Geschichte«, sagte er, während er seine Bauchmuskeln streichelte, die ihm vor lauter Lachen schmerzten. »Die Hasengeschichte.«

      »Nein, Papa. Das darfst du nicht. Fynn bekommt ein schlechtes Bild von mir.«

      »Die muss sein, Liebling«, kicherte er. »Also. Amanda ist acht. In den Sommerferien verlässt sie eines Nachmittags das Haus. Es ist heiß, sehr heiß. Die Mutter fragt sie: ›Liebling, wohin gehst du?‹– ›Einkaufen, Ma, in den Krämerladen.‹ – ›Was einkaufen?‹ – ›Eis und ein bisschen was für später.‹ – ›Was für später?‹ – ›Ja, Bonbons oder so.‹ – ›Du sollst nicht …‹, aber da war sie bereits verschwunden. Nach, sagen wir, 20 Minuten, höre ich Schreie. Entsetzliche Schreie, Fynn. ›Lasst mich raus! Lasst mich hier raus!‹ Ich gehe hinter das Haus. Und was sehe ich? Was sehe ich, Fynn? Unseren mit Spanngurten fixierten Hasenstall. Darin der schwitzende siebenjährige Nachbarsjunge. Eingezwängt in genau diesem Stall. Um ihn herum ein riesiger Haufen Stroh, einige Löwenzahnblätter und eine Schüssel mit Wasser. ›Was machst du da?‹, frage ich ihn. ›Amanda‹, sagt er nur und heult los. ›Sie hat mich eingesperrt.‹ – ›Wie, eingesperrt?‹ – ›Wir haben Bäuerin und Hase gespielt und ich bin der Hase.‹ In diesem Augenblick kommt Amanda um die Ecke. ›Was hast du mit Tommy angestellt, Amanda?‹, frage ich. ›Wir haben gespielt‹, sagt sie ruhig. ›Und die Gurte um den Hasenstall?‹ – ›Er wollte ihn kaputt machen.‹ – ›Was kaputt machen?‹ – ›Er hat sich gestreckt und der Stall hat zu ächzen begonnen. Also habe ich die Gurte um den Stall gelegt, damit er ganz bleibt.‹ – ›Und der Löwenzahn?‹ – ›Er ist der Hase. Ich habe ihm gesagt, wenn du den Löwenzahn fleißig frisst, lass ich dich raus. Aber er wollte nicht. ›Er schmeckt bitter‹, hat er gejammert. ›Ja‹, hab ich geantwortet, ›er schmeckt bitter, aber er ist gesund und ich will einen fetten Hasen und keinen dünnen.‹ Kurzum, Tommy musste eine Stunde im Stall verharren, ehe er ihn völlig verspannt verlassen durfte. Dabei blickte er Amanda böse ins Gesicht, sagte: ›Mit dir spiel ich nie wieder‹, und rannte weinend davon.

      Erneut begannen alle am Tisch schallend zu lachen. Und so ging das bis spät nach Mitternacht.

      Später, als Amanda und ihr Vater allein waren, umarmte er sie und meinte: »Da hast du einen besonderen Freund. Und ich spüre, dass er auch weiß, was für ein kostbarer Mensch du bist.«

      Schließlich küsste er sie auf die Stirn und sagte: »Ich bin so froh, dass es dich gibt«.

      Amanda war dermaßen in Fynn verliebt, dass sie es vor lauter Glück fast nicht aushielt. Alles war so friedlich. Es war vollkommen unmöglich mit ihm zu streiten, denn er war durch nichts aus der Ruhe zu bringen.

      Obwohl – am Anfang war er ihr schon ein bisschen komisch vorgekommen. Er hatte ihr erzählt, dass er gerne tagelang durch die Wälder streife und abends an einem geeigneten Platz ein Zelt aus Ästen und Reisig errichte. Danach breite er knietief Buchenlaub darin aus, Moos, Farn oder was er gerade finde, und suche Harz und trockenes Holz. Wenn er so erzählte, mit diesem Glanz der Begeisterung in den Augen, und Lagerfeuer aus seinen Erinnerungen zurück in seine Gedanken holte, hielt sie ihn zuerst für einen jener Survival­typen, die sich in der Wildnis von Beeren und Raupen ernährten, einen von jenen, die man manchmal tief in den Wäldern sah, raue Kerle mit Rastalocken, dicken Strickpullovern, schweren Stiefeln und verschmutzten Rucksäcken, in denen sich Feuersteine, Axt und Säge befanden. Alles Dinge, die sie brauchten, um ihr Leben in der Wildnis auf die Probe zu stellen. Sie war sich in den ersten Wochen nicht sicher, ob er wirklich der Junge war, mit dem sie ihre Zukunft verbringen wollte. Von fast jedem Streifzug kam er mit Beeren, Wurzeln und Pilzen zurück, und einiges davon schmeckte verdächtig seltsam, aber trotzdem aß sie alles, was er ihr vorlegte, denn sie war so schrecklich in ihn verliebt. Als sie einmal eine bitter schmeckende Beere zerkaute, dachte sie sich: So Amanda, das war’s, und sie kam sich vor wie Romeos Julia.

      Das erste Mal, als sie bei ihm zu Hause gewesen war, hatte er ihr sein Depot für schlechte Tage gezeigt. Ja, so nannte er das. Depot für schlechte Tage. In seinem Zimmer öffnete er einen Vorratsschrank, und die Fächer waren voll mit Reissäcken, Nudelpackungen, Trockenfrüchten und Dutzenden Konservendosen. »Für Notzeiten?«, hatte Amanda damals ungläubig gefragt.

      Fynn hatte sie ernst angesehen. »Wenn die harten Zeiten einmal da sind, werden zuerst die Supermärkte geplündert. Wer dort zu spät kommt, hat schlechte Karten. Seine Großmutter sage immer: Wer einmal richtig Hunger gelitten hat, wird immer ein Vorratslager besitzen.« Amanda hatte geschwiegen und gedacht: durchgeknallt. Dieser Typ ist vollkommen durchgeknallt.

      Aber als sie später mit Fynns Großmutter in der Küche saßen, die gerade Apfelringe schnitt, um sie später an einem Bindfaden aufzufädeln und wie Girlanden über dem Kachelofen aufzuhängen, um sie zu dörren, war sie sich gar nicht mehr so

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