Der letzte Prozess. Thomas Breuer
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Fabian Heller
– freier Journalist –
– Recherchen aller Art –
Das Messingschild neben der Tür des Mehrfamilienhauses im Pählenweg im Hammer Stadtteil Westtünnen war halb von einem weiß-grünen Plädderschiss verdeckt. Bevor Heller die Haustür aufschloss, wischte er den Vogeldreck mit einem Papiertaschentuch ab. Er betrat den Hausflur und öffnete seinen Briefkasten. Ein Stapel Briefe und jede Menge Werbung quollen ihm entgegen. Er stöhnte leise auf, sortierte die Hochglanzbroschüren aus, die überwiegend von Discountern stammten, verteilte sie auf die benachbarten Briefkästen und erklomm mit seiner Stofftasche und den Briefen in der Hand die Treppe bis in den dritten Stock.
Bereits auf halber Höhe roch er das muffige Wischwasser und als er die letzte Biegung genommen hatte, kroch seine Etagennachbarin ihm auf den Knien rückwärts die Treppe herab entgegen. Es würde nichts nützen, sie darauf hinzuweisen, dass dies eigentlich seine Wisch-Woche war. Sie wusste das ganz genau und dies war ihre Art, ihn auf seine Pflichtvergessenheit aufmerksam zu machen. Heller hatte den Eindruck, dass sie ihm hinter ihren Fenstern auflauerte und immer genau in dem Moment zu wischen begann, in dem er das Haus betrat. Wie üblich beantwortete sie seinen Gruß auch heute nur mit einem vorwurfsvollen Schweigen und leidend zusammengekniffenen Lippen. Die Frau war noch keine dreißig und schon verbiestert wie eine alte Jungfer. So hat jeder seine eigene Art, sich selbst und anderen das Leben zu vermiesen.
In der Küche warf er die Briefe auf den Tisch und stellte die Stofftasche auf einen Stuhl. Dann holte er sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, öffnete sie und ließ Flaschenöffner und Kronkorken achtlos auf der Arbeitsplatte zurück. Während er die Flasche mit einem langen Zug halb leerte, schlurfte er durch den kleinen Flur hinüber in sein Büro und ließ sich auf den Drehstuhl fallen. Das rote Lämpchen des Anrufbeantworters auf dem Schreibtisch blinkte. Statt die entgangenen Anrufe sofort abzurufen, erhob er sich unruhig wieder, trat an das Fenster in der Dachgaube und blickte hinaus über die Weiden auf den Hüls, das kleine Wäldchen ein paar hundert Meter entfernt. Ein Turmfalke stand rüttelnd in der dunstigen Luft über dem matten Grün. Plötzlich flog er ein paar Meter weiter und nahm dort erneut seinen Beobachtungsposten ein. Die blattlosen Baumkronen drüben am Wald wiegten sich leicht im Wind. Darüber kündigte sich in den Wolkenschlieren im Übergang von Gelb nach Orange die Dunkelheit an.
Fabian Heller fühlte sich wie ausgelöscht. Langsam leerte er die Bierflasche und sah zu, wie der Falke, der offenbar aus seiner schwindelerregenden Höhe eine Maus da unten im Gras entdeckt hatte, sich pfeilschnell in die Tiefe stürzte. Triumphierend sicherte das Tier seine Umgebung, bevor es mit schnellen Stößen auf die Beute zwischen seinen Fängen einzuhacken begann.
Heller ließ die leere Bierflasche auf dem Fensterbrett stehen, auf dem bereits drei andere standen, und wandte sich erneut seinem Schreibtisch zu. Er betätigte mehr aus Pflichtgefühl als aus einem inneren Antrieb heraus die Abruftaste des Anrufbeantworters, die hektisch blinkte.
Hartmut Brenner, der Chefredakteur des Westfälischen Anzeigers, hatte erstmals am Mittag und dann in immer kürzeren Abständen den ganzen Nachmittag über versucht, ihn zu erreichen. Von Anruf zu Anruf wurde die Stimme ungeduldiger und die für ihn charakteristischen Flüche nahmen zu. Brenner war wohl der größte Proll, dem Heller jemals begegnet war.
Zum letzten Mal hatte der Chefredakteur es um 19 Uhr versucht: »Verdammt, Heller, wo steckst du denn? Kannst du nicht einmal dein Handy mitnehmen, verflucht noch mal? Wir warten hier auf deinen Bericht vom Prozess. Wenn du dich bis morgen Mittag nicht meldest, rufe ich Rogalski an. Dann kannst du dir den Auftrag in den Arsch schieben, verlass dich drauf. Immer so ein Affentheater mit dir! Scheiße, Mann!«
Fabian Heller musste grinsen, als er sich vorstellte, wie Brenner als Rumpelstilzchen um seinen Schreibtisch herumgesprungen und immer wütender geworden war. Allein um das jeden Tag sehen zu können, hätte er gerne eine Festanstellung bei der Zeitung gehabt. Nebenbei wäre er dann endlich abgesichert gewesen. Aber heutzutage konnte man froh sein, wenn man hin und wieder als freier Mitarbeiter einen Auftrag über den Zaun geworfen bekam. Er griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer der Redaktion.
»Na endlich«, schnauzte Brenner. Offensichtlich hatte er Hellers Telefonnummer auf dem Display erkannt. »Wo steckst du denn den ganzen Tag? Ich sitze hier auf heißen Kohlen, während der Herr sich fröhlich irgendwo die Eier schaukelt. Demnächst wird das Nazischwein in Detmold verurteilt und wir kriegen das nicht mit. Scheiße, Mann!«
Fabian Heller ignorierte die Pöbelei, weil Widerspruch bei Brenner eh zu nichts geführt hätte. Stattdessen erinnerte er den Chefredakteur daran, dass heute der erste Prozesstag gewesen war, von Urteil also weit und breit noch keine Spur. Dann berichtete er kurz von den Ereignissen im Gerichtssaal, die nach der ersten Zeugenaussage ein jähes Ende gefunden hatten, da die für den Angeklagten zumutbare Zeit abgelaufen war.
»Na bitte, da hattest du ja Zeit genug, den Bericht zu schreiben.«
Heller überlegte, ob er von seinem Besuch im Haus seiner Mutter erzählen sollte, aber das hätte Brenner nicht verstanden. »Ich bin da noch einer anderen Sache nachgegangen«, flunkerte er stattdessen. »Heute Morgen hat eine alte Holocaust-Leugnerin versucht, in den Sitzungssaal zu kommen. Eine junge Aktivistin hat das verhindert. Tolle Geschichte, sagt viel über das Umfeld aus, in dem der Prozess stattfindet.«
»Und das hat den ganzen Nachmittag gedauert, oder was?«
»Jedenfalls habe ich jetzt etwas, das die anderen Zeitungen so nicht bringen werden.«
»Na ja, abwarten, ob das was taugt. Wann habe ich es in meinem Postfach?«
»Gib mir eine Stunde.«
Brenner schnaufte ungehalten. »Was ist mit Bildern? Ich hoffe, du hast Fotos von Hanning gemacht.«
Mist, dachte Heller, jetzt hatte Brenner ihn an der Gurgel. »Nein, keine Fotos«, gab er betreten zu.
»Wie bitte? Keine Fotos? Verfluchte Scheiße, Heller, ich will, dass das Grauen ein Gesicht bekommt. Eine Fresse, in die man reinschlagen möchte, wenn man deinen Bericht liest.«
»Das funktioniert aber nicht. Du hättest den Alten sehen sollen. Typ lieber Opa. Wenn unsere Leser den sehen, bekommen sie am Ende noch Mitleid mit dem Dreckskerl. Da ist es besser, man zeigt seine Visage erst gar nicht.«
Einen Moment blieb es still am anderen Ende. Heller konnte nicht entscheiden, ob Brenner seine Argumente langsam verarbeitete, oder ob er einfach nur sprachlos war über so viel Unverfrorenheit.
»Also gut, Heller, ich lasse dir das ausnahmsweise durchgehen«, kam es unerwartet zurück. »Aber dann will ich demnächst Fotos von den Opfern. Wenn wir schon keine Wut gegen den Täter erzeugen können, will ich bei unseren Lesern wenigstens Mitleid mit den Opfern. Leser, die nichts fühlen, wenn sie unser Blatt lesen, laufen uns weg zur Blöd-Zeitung. Und das kannst ja wohl selbst du nicht verantworten.«
Was heißt hier ›selbst ich nicht‹, wollte Heller schon fragen, aber dann entschied er sich dagegen. Manchmal war Schweigen besser, vor allem im Umgang mit Cholerikern wie Brenner. Sollte der Idiot doch glauben, dass er das letzte Wort behielt.
»Ich mache mich dann mal an die Arbeit«, sagte er stattdessen und bemühte sich um einen reuigen Tonfall.
»Moment. Verflucht, jetzt hätte ich