Der Arzt vom Tegernsee Staffel 4 – Arztroman. Laura Martens
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Читать онлайн книгу Der Arzt vom Tegernsee Staffel 4 – Arztroman - Laura Martens страница 27
Melissa und Sabrina war es ziemlich beklommen zumute, als sie allein ins Sprechzimmer kamen. Ohne ihre Oma fühlten sie sich alles andere als wohl in ihrer Haut.
»Wissen eure Großeltern, wo ihr seid?« erkundigte sich Dr. Baumann, nachdem er die Kinder begrüßt hatte.
Sie schüttelte den Kopf. »Sie hätten uns bestimmt verboten, mit dem Tamagotchi zu dir zu gehen, Onkel Doktor«, meinte Sabrina. »Aber einer muß ihm ja helfen, sonst stirbt es.«
»Franziska ist Spezialist auf dem Gebiet der Tamagotchis«, behauptete Eric und zwinkerte der jungen Krankengymnastin zu. »Zeigt es ihr, sie wird ihm bestimmt helfen können.«
»Sind Sie auch ein Doktor?« erkundigte sich Melissa.
»Franziska ist Krankengymnastin«, erklärte Dr. Baumann und sagte den Kindern, daß die junge Frau nicht sprechen konnte, weil sie als kleines Mädchen einen Autounfall gehabt hatte.
»Das ist bestimmt sehr schlimm«, meinte Sabrina.
»Ich habe mich daran gewöhnt«, schrieb Franziska. »Und nun werde ich mal sehen, was ich für euer Tamagotchi tun kann.«
Melissa nahm es vorsichtig aus ihrem Beutel und legte es der jungen Frau so behutsam in die Hände, als würde es sich nicht um ein Spiel, sondern um ein richtiges Tier handeln.
»Ich werde eure Großeltern anrufen und ihnen sagen, daß ihr bei mir seid.« Dr. Baumann griff zum Telefonhörer.
»Hoffentlich ist unsere Oma am Apparat«, sagte Sabrina und zog unwillkürlich die Schultern zusammen.
Aber es war nicht Sabine Seitter, die den Anruf entgegennahm, sondern ihr Mann. »Was gibt es denn, Doktor Baumann?« fragte er überrascht, als sich der Arzt meldete.
»Ich nehme an, Sie haben Ihre Enkelinnen bereits vermißt«, meinte Eric.
»Ja, meine Frau sucht nach ihnen«, antwortete der Steuerinspektor a. D. »Sind die beiden etwa bei Ihnen? – Weshalb? Ich…«
»Sie sind sozusagen mit einem Notfall zu mir gekommen«, fiel ihm der Arzt ins Wort und sprach von dem Tamagotchi.
»Ich werde dafür sorgen, daß so etwas nie wieder vorkommt«, drohte Heinz Seitter. »Sobald meine Frau zurück ist, wird sie die Kinder abholen. Ich kann leider im Moment nicht weg, weil ich einem Nachbarn bei seiner Steuererklärung helfe. Wäre es möglich, daß die Kinder im Wartezimmer…«
»Meine Haushälterin wird sich um Ihre Enkelinnen kümmern. Sie hat Kinder sehr gern.«
»Sie soll den Kindern auf keinen Fall Süßigkeiten geben, das haben sie nicht verdient«, erwiderte Heinz Seitter. »Und was das Tamagotchi betrifft, so…«
»So werden Sie Gnade vor Recht ergehen lassen, Herr Seitter«, verlangte Eric. »Für die Kinder ist es tatsächlich ein Notfall gewesen.«
»Gut, ich werde es ihnen nicht fortnehmen, obwohl ich nicht verstehen kann, weshalb meine Frau so dumm gewesen ist, ihnen so etwas Irrsinniges zu kaufen. Aber Vernunft und Frauen…« Er seufzte auf. »Auf jeden Fall danke, Doktor Baumann.«
»Schon gut«, meinte der Arzt und legte auf.
Sabrina wandte sich ihm zu. »Wir bekommen bestimmt Stubenarrest für die nächsten vier Wochen«, vermutete sie.
»Dafür ist unser Tamagotchi wieder gesund.« Melissa strahlte. »Danke, Franziska.« Sie stellte sich auf Zehenspitzen und küßte die junge Frau auf die Wange.
Während Franziska die Zwillinge zu Katharina Wittenberg hinüberbrachte, bat Dr. Baumann
seine Sprechstundenhilfe, Frau Stanzl aufzurufen. Ihr war leider nicht so schnell zu helfen wie dem Tamagotchi der Seitter-Zwillinge.
Als Andrea wenig später das Sprechzimmer betrat, bemerkte er auf den ersten Blick, wie schlecht es ihr ging. Das Gesicht der jungen Frau wirkte fahl, unter ihren Augen lagen tiefe Schatten. Vermutlich hatte sie in der Nacht wieder nicht schlafen können.
»Es war eine fürchterliche Nacht«, bestätigte Andrea, als er sie danach fragte. »Außerdem hatte ich Krach mit meinem Freund.« Sie hob die Schultern. »Im Grunde genommen kann ich ihn sogar verstehen. Herbert verläßt sich darauf, daß ich ihm den Haushalt führe und in der Kneipe helfe. Eine Frau, die ständig zum Arzt rennen muß, nervt jeden Mann. Er hat mir heute morgen nicht einmal das Busgeld gegeben. Zum Glück spare ich mir immer das Trinkgeld, das mir manchmal von einem Gast zugesteckt wird.«
»Mit anderen Worten, Herr Freytag gibt Ihnen für Ihre Arbeit keinen Pfennig«, sagte Eric perplex.
»Er zahlt mir meine Krankenversicherung«, erwiderte Andrea. »Außerdem wohne ich bei ihm umsonst und habe auch mein Essen.« Sie starrte auf ihre Hände.
»Und Ihnen ist nie der Gedanke gekommen, daß Herr Freytag Sie ausnutzt?« fragte der Arzt. »Sie arbeiten weit mehr, als Sie für Wohnung und Essen bezahlen müßten. Herr Freytag spart durch Sie eine ganze Menge. Eine Haushälterin oder jemand für die Kneipe würden ihm bedeutend mehr kosten, als Sie in einem ganzen Monat essen können.«
»Mag sein, doch wo soll ich hin?« fragte die junge Frau verzweifelt. »Wer gibt mir denn schon eine Arbeit? So wie ich aussehe, kann ich nicht einmal bei der Müllabfuhr landen.« Sie fuhr sich nervös durch die Haare. »Natürlich, ich könnte zum Arbeitsamt gehen und mich arbeitslos melden, nur, ich werde kaum soviel Geld bekommen, daß ich davon meinen Lebensunterhalt und die Miete für ein Zimmer bestreiten könnte. Ich bin niemals arbeiten gegangen. Gleich nach der Realschule habe ich für meine kranke Mutter sorgen müssen.«
»Frau Stanzl, wenn Sie den Mut aufbringen, Herrn Freytag zu verlassen und Ihr Leben in eigene Hände zu nehmen, dann wird sich schon alles finden.« Eric sah sie beschwörend an. »Ich bin bereit, Ihnen dabei zu helfen. Durch meinen Beruf kenne ich sehr viele Leute, und ich bin überzeugt, daß ich…«
Andrea schüttelte den Kopf. »Und wer sagt, daß ich es schaffen werde? Bei meinem Freund weiß ich, woran ich bin, mit völlig fremden Leuten würde ich bestimmt nicht zurechtkommen.«
»Dr. Baumann erkannte, daß Andrea noch nicht soweit war, sich von diesem Mann zu lösen. Jedenfalls wollte er das Seine dazu beitragen, ihr mehr Selbstwertgefühl zu geben. Aber so etwas ging natürlich nicht von heute auf morgen. Er ahnte schon jetzt, daß er sehr viel Geduld aufbringen mußte, um ihr nicht nur physisch zu helfen.
»Wie ich vermutet habe, handelt es sich bei Ihren Knieschmerzen um eine Arthrose«, sagte er. »Leider befindet sie sich nicht mehr im Anfangsstadium. Ich nehme an, daß Sie die ersten Beschwerden ganz einfach nicht wichtig genommen haben.«
»Mag sein«, gab seine neue Patientin zu. »Bei mir zu Hause hat nie jemand danach gefragt, wie es mir geht. Wenn ich mal Schmerzen hatte, habe ich versucht, sie zu ignorieren. Geholfen hätte mir sowieso keiner.«
Der Arzt zählte in Gedanken bis zehn, um sich seinen Ärger und Zorn auf Andreas Eltern und ihren späteren Stiefvater nicht anmerken zu lassen. Er sprach mit ihr darüber, daß er ihr gegen die Schmerzen mit Spritzen helfen konnte, sie allerdings auch eine ganze Menge tun mußte, um die Arthrose zum Stillstand zu bringen. »Das A und O Ihrer Behandlung ist eine Reduzierung Ihres Gewichtes«, sagte er eindringlich. »Ihre Beine müssen entlastet werden, wenn Sie nicht schon in jungen Jahren am Stock gehen