Die neue Praxis Dr. Norden 1 – Arztserie. Carmen Lindenau
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Als er eine halbe Stunde später in die Praxis ging, hatte er keine Zeit mehr, über dieses bevorstehende Treffen mit Ophelias Mutter nachzudenken. Die ersten Patienten saßen wie jeden Morgen bereits im Wartezimmer und hofften, dass die Sprechstunde bald anfing.
Einen Moment mussten sich seine Patienten aber noch gedulden, da er erst in der Klinik seiner Eltern anrufen wollte, um sich nach dem Ergebnis der Untersuchung von Franziska Kern zu erkundigen. Er war froh zu hören, dass es nicht notwendig war, das Knie zu punktieren, da die Schwellung allmählich zurückging. Auch eine Punktierung, so harmlos dieser Vorgang sich anhörte, war mit einem gewissen Risiko verbunden. So sorgfältig ein Arzt auch vorging, es bestand immer die Gefahr, dass Keime ins Knie eindrangen und weitere Komplikationen verursachten. Die konservative Methode, schonen, kühlen und ab und zu das betroffene Bein hochlagern, war auf jeden Fall die bessere Lösung. Nachdem Danny sich bei dem Orthopäden, der Franziska untersucht hatte, für die Auskunft bedankt hatte, bat er Sophia, Frau Kohlmichel, seine erste Patientin an diesem Morgen, hereinzuschicken.
»Was kann ich für Sie tun, Frau Kohlmichel?«, fragte Danny die zierliche grauhaarige Frau in dem schwarzweiß gepunkteten Kleid, die wenig später auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch saß.
»Es ist mein Magen, vielleicht wieder eine Gastritis«, sagte Erna Kohlmichel und fasste mit der Hand an ihren Oberbauch.
»Haben Sie denn in letzter Zeit viel Stress?«, wollte Danny wissen.
»In der Schule herrscht gerade ein wenig Durcheinander. Sie wissen ja, ich unterrichte Biologie am Gymnasium, und zurzeit sind einige Lehrer krank und der Unterricht muss irgendwie aufgefangen werden. Neulich habe ich sogar Mathematik gegeben, weil die Vertretung unserer Frau Kern krank war. Und weil ich gerade von ihr spreche, dieses dumme Gerede von der Großmutter eines unserer Kinder, dass Frau Kern ungerechte Noten verteilt, das sorgt mittlerweile für große Unruhe.«
»Mit dieser Großmutter meinen Sie wohl Frau Meier.«
»Ich sehe, Sie wissen Bescheid«, antwortete Frau Kohlmichel schmunzelnd. »Diese Vorwürfe, die sie gegen Frau Kern erhebt, sind absolut lächerlich, und sie sollte wirklich mit dieser üblen Nachrede aufhören.«
»Nicht aufregen«, redete Danny Erna Kohlmichel gut zu, als sie sich wieder an den Magen fasste. »Ich sehe mal nach, wie es Ihrem Magen geht, legen Sie sich auf die Liege«, bat er seine Patientin. »Nichts Schlimmes«, sagte er, nachdem er sie untersucht hatte. Bis auf eine leichte Gastritis, die mit Haferschleim und Tee zu heilen war, konnte er nichts feststellen.
Auch die anderen Patienten, die an diesem Vormittag seine Sprechstunde besuchten, litten nur an mehr oder weniger harmlosen Beschwerden. Jeder Tag ohne dramatische Diagnosen war ein guter Tag für ihn, und er war dankbar, dass er auch während der Nachmittagssprechstunde keine Hiobsbotschaften verkünden musste. Er hatte gerade den letzten Patienten verabschiedet, da rief Olivia Mai an.
»Wäre es Ihnen möglich, sich mit mir um sieben Uhr im Park von Schloss Nymphenburg zu treffen?«, fragte sie ihn.
»Warum denn dort?«, wunderte sich Danny.
»Ich weiß, das erscheint Ihnen jetzt ein bisschen merkwürdig.«
»Allerdings, wir könnten uns doch auch einfach an der Hecke im Garten treffen.«
»Das möchte ich Ihnen aber nicht zumuten, bevor Sie nicht gehört haben, was ich Ihnen zu sagen habe.«
»Gut, dann um sieben im Park. Wo genau?«
»Am Kanal, dort, wo die Gondeln starten.«
»Wie erkenne ich Sie? Wir sind uns bisher noch nicht begegnet.«
»Sie kennen meine Tochter und unsere Katze. Ich passe ins Bild«, antwortete sie mit einem Lachen in der Stimme. »Bis nachher«, sagte sie und legte auf.
Was soll das werden? Wieso bestellt sie mich in den Park?, fragte sich Danny. Aber gut, Olivia Mai war Psychologin, da waren seltsame Dinge programmiert. Eine Psychologin mit einer ungewöhnlich schönen Stimme, dachte er und fragte sich, wie diese Frau wohl aussehen mochte, der diese Stimme gehörte.
*
Schloss Nymphenburg im Westen des Münchner Stadtgebietes gelegen wurde im 17. Jahrhundert erbaut. Die weitläufige Schlossanlage übertraf in ihren Ausmaßen sogar Versailles und war ein Touristenmagnet. Der Schlosspark mit seinen imposanten Brunnen und den Kanälen war für Danny immer wieder aufs Neue beeindruckend. Mit den Gondeln, die auf den Kanälen fuhren, war er bisher allerdings noch nie gefahren.
Sie legten in einer Bucht am Ende des großen Kanals ab, der von alten Laubbäumen gesäumt direkt auf das Schloss zulief. Die letzten Gondeln fuhren um 18 Uhr, wie er auf einem Schild lesen konnte, das an dem Stamm einer Weide lehnte. Deshalb wunderte es ihn nicht, dass außer ihm niemand mehr in dieser Bucht war. Bis auf eine schwarz lackierte Gondel mit einem vergoldeten Pferdekopf am Bug, die vor ihm auf dem Wasser schaukelte, waren wohl alle schon in ihrem Hafen am anderen Ende des Kanals. Er setzte sich auf eine Bank am Ufer und schaute den Graugänsen zu, die über das Wasser glitten. Es war bereits zehn nach sieben, aber das störte ihn nicht. Falls Olivia Mai nicht kam, würde er einfach noch eine Weile die Ruhe genießen, die allmählich im Park einkehrte.
Als er irgendwann aufschaute und sich umsah, ob er irgendwo doch noch eine Frau entdeckte, die ins Bild passte, wie sie am Telefon gesagt hatte, zuckte er verblüfft zusammen, weil er glaubte, eine Erscheinung zu haben. Aber es war keine Erscheinung, es war eine Frau mit langem rotem Haar.
Durch das Sonnenlicht, das durch das Laub der Bäume fiel und sie einhüllte, wirkte sie fast durchsichtig zart. Das hellrote Haar, das leuchtendblaue Kleid, das bei jedem ihrer Schritte in Schwingung geriet, es war, als schwebte sie geradewegs auf ihn zu. Wie gebannt sah er sie an und vergaß für einen Augenblick sogar zu atmen. Ja, sie passte ins Bild, und dieses Bild war faszinierend.
»Olivia Mai«, stellte sie sich ihm vor und reichte ihm die Hand. »Danke, dass Sie gekommen sind, Doktor Norden.«
»Sie hatten keinen Zweifel, dass ich es bin«, sagte er und hatte das Gefühl, seine Stimme wie aus der Ferne zu hören, als er in ihre hellen blauen Augen schaute.
»Meine Tochter schwärmt mir seit Tagen von Ihnen vor. Ich habe mir Ihre Internetseite angesehen, obwohl …«
»Obwohl?«, hakte er nach, als sie innehielt.
»Ein Foto ist eben immer nur ein Foto. Es kann niemals das Original wiederspiegeln.«
»Diese Antwort lässt offen, ob das Original Sie positiv überrascht oder enttäuscht hat.«
»Sie sind selbstbewusst genug. Ich bin sicher, Sie kennen die Antwort«, antwortete Olivia lächelnd.
»Ich suche mir einfach eine aus.«
»Tun Sie das«, sagte sie und hielt seinen Blick fest.
»Warum wollten Sie mich hier treffen?«, fragte er sie und wich ihrem Blick aus. Sie machte ihn nervös, und das wollte er sie nicht merken lassen. Sie war seine Nachbarin und sie war Psychologin, das waren zwei gute Gründe, Abstand zu halten, damit es nicht zu unangenehmen Verwicklungen kam.
»Ich erzähle es Ihnen gleich, steigen wir doch zuerst ein.« Sie deutete auf die einsame Gondel im Wasser vor ihnen und nickte dem Gondoliere in dem schwarzweiß gestreiften Pulli zu, dessen Ankunft Danny gar nicht mitbekommen hatte und der bereits