Logotherapie und Existenzanalyse heute. Elisabeth Lukas

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Logotherapie und Existenzanalyse heute - Elisabeth Lukas

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träumen signifikant oft von archetypischen und mythischen Figuren. Man nennt dieses bemerkenswerte Phänomen „doktrinäre Fügsamkeit“.28

      Nun enden diese Wechselwirkungen zwischen Selbst- und Menschenbild auf der einen Seite und Erleben und Verhalten auf der anderen Seite keineswegs in den eben besprochenen Phänomenen selbst. Vielmehr beschreiben beide Befunde, jene zur Frage der „geglaubten Willens(un)freiheit“ ebenso wie die zur „doktrinären Fügsamkeit“ darüber hinaus einen sich fortwährend selbst verstärkenden Prozess. Das ist leicht nachzuvollziehen: Denn natürlich bestätigt das Erleben und Verhalten indoktrinierter Personen denjenigen, der aus den Beobachtungen ihres Erlebens und Verhaltens psychologische Modelle und Theorien abzuleiten versucht. Wenn also Versuchspersonen bewusst oder unbewusst Erwartungseffekte des Forschers oder Therapeuten erfüllen, dann liefern sie zugleich ja auch in hohem Maße theoriebestätigende Daten; und je mehr diese Daten die Theorie bestätigen, desto sicherer wird der jeweilige Forscher oder Therapeut sich fühlen, dass seine Theorie stimmt. Und je sicherer er sich fühlt, desto eher und stärker wird er seinerseits Erwartungseffekte evozieren.

      Abgesehen vom „Schulenstreit“ und der Artefaktanfälligkeit der psychologischen Forschung scheint mir jedoch noch wichtiger, auf die praktischen, sozialen und auch moralischen Implikationen der hier besprochenen Querverbindungen hinzuweisen. Fügt man nämlich all dieses Wissen zusammen, dann wird einem die Verantwortung, aber auch die Aufgabe (insbesondere des Logotherapeuten) bewusst, gegenzusteuern gegen eine Verkennung des Menschen. Frankl selbst ist immer wieder gegen den Reduktionismus, gegen eine egozentrische Psychologisierung und gegen den wachsenden Nihilismus gerade in den Wohlstandsgesellschaften aufgetreten und hat den Menschen verteidigt gegen jedweden Versuch, ihn „schlechter zu machen, als er ist“.

      Lukas: Es ist eine blendende Idee von Ihnen, zwischen den Auswirkungen und den Entstehungen von Menschenbildern einen „circulus vitiosus“ zu wittern. In der Tat verhalten wir Menschen uns gemäß unseren Selbstbildern und unserem Selbstverständnis, und dieses unser Verhalten wird dann zum bekräftigenden Beweis jener Bilder und jenes Verständnisses, die Wissenschaftler (und andere Führungspersonen, z. B. Religionsvertreter) uns Menschen zuordnen. Vermutlich gibt es gar keinen Ausstieg aus diesem Zirkelprozess. Es gibt nur Veränderungen, die entweder an einem allmählichen Verhaltenswandel vieler Menschen ansetzen – und damit Veränderungen im populären Menschenbild nach sich ziehen, oder an einem allmählichen (Selbst-)Bewusstseinswandel vieler Menschen ansetzen – was sich modulierend auf ihr Verhalten auswirkt. Auch Zirkelprozesse sind dem „Panta rhei“ unterworfen.

      Nun ist die Frage der gezielten suggestiven Beeinflussung, wie gesagt, uralt, allgegenwärtig und im Zeitalter der totalen Vernetzung aktueller als jemals zuvor. Wer hätte sich noch vor 60 Jahren vorstellen können, dass man Menschenmassen vom Schreibtisch aus per Mausklick mobilisieren, ja, sogar radikalisieren kann, etwas Bestimmtes zu tun oder zu glauben? Dass man Werbekampagnen für oder gegen Kaufartikel, Parteien, Volksangehörige, Weltanschauungen etc. durch den Äther schicken kann mit drastischen Konsequenzen? Denn nicht nur das Bild, das wir uns über uns selbst machen, dirigiert unser Verhalten, sondern auch das Bild, das wir uns über gewisse Personengruppen machen (siehe „Mutterbild“), steuert unseren Umgang mit jenen Personengruppen, was schon Despoten von Herodes bis Hitler ausgenutzt haben. Nicht umsonst hat Frankl nicht nur vor dem Psychologismus (problematisches eigenes Menschenbild), sondern auch vor dem Kollektivismus eindringlich gewarnt, der seinen Spuk mit problematischen Fremdbildern treibt.

      3. UNTER DEM STERNENHIMMEL SICH UND DEM LEBEN NEU BEGEGNEN

      Batthyány: Damit wird aber auch die Frage aufgeworfen: Was kann und soll die Logotherapie hierzu ausrichten – wie kann sie hier beitragen, um heilsam und korrigierend zu wirken? Natürlich kann – und soll sie wohl – aktiv am öffentlichen Diskurs über den Menschen teilnehmen, und tut das ja auch seit jeher. Ich möchte die Frage aber gerne konkreter mit Blick auf die Psychohygiene und Psychotherapie, also die Korrektur eines problematischen eigenen Menschenbilds, stellen.

      Lukas: Ich denke, dass sich die Logotherapie vor dem Fehler hüten muss, eine Doktrin mit einer anderen zu bekämpfen. Als sich Frankl von der ersten und zweiten Wiener Schule der Psychotherapie abzugrenzen und eigene Wege zu beschreiten begann, war es für ihn notwendig, den gängigen reduzierten Menschenbildern ein vollständigeres entgegenzuhalten. Aber wir wissen aus anderen Zusammenhängen, dass der Versuch einer Gegeneinflussnahme nicht viel besser ist als die Einflussnahme, gegen die sie opponiert. Oder, wie ich meinen Patienten zu sagen pflegte: „Auch der umgedrehte Spieß ist ein Spieß“. Lässt sich eine Frau zum Beispiel jahrelang von ihrem Mann anschreien und demütigen, und gelingt es ihr dann endlich, sich auf die eigenen Füße zu stellen, zurückzuschreien und zurückzudemütigen, so hat sie sich damit noch lange nicht weiterentwickelt. Sie hat zwar gelernt, sich zu verteidigen, und wenn etwas daran gut ist, dann hat sie gelernt, sich auf ihre Würde zu besinnen, aber ansonsten hat sie sich exakt auf der Stufe verhakt, auf der ihr Mann steht, und kein Höckerchen höher. Erst wenn sie gewaltlos und in authentischer Gelassenheit seine Exzesse abwehren oder ignorieren oder belächeln oder ihnen ausweichen kann, erst wenn sie sich ohne Verteufelung ihres Mannes ein für sie beide günstiges Verhaltensrezept erarbeiten kann, ist sie wirklich um etliche Stufen höher aufgestiegen.

      Analog ist es nicht die optimale Aufgabe eines Psychotherapeuten, seine negativ indoktrinierten Patienten gegenzuindoktrinieren, auch nicht zu ihren Gunsten. Man macht das zwar hin und wieder, um größeres Übel zu verhindern. Frankl verglich solche appellativen und suggestiven Strategien mit der sogenannten „Seilhilfe“ am Berghang. Klettern zwei Bergsteiger eine steile Wand empor, dann sichert der obere Kamerad, nachdem er einen festen Stand erlangt hat, den nachkommenden unteren Kameraden mit einem Seil. Dieses Seil soll den unteren retten, falls er abrutscht. Aber es ist nicht dafür gedacht, den unteren emporzuhieven. Sollte allerdings der untere Kletterer bedroht sein, den Halt zu verlieren, oder einfach keinen Griff in der Wand über sich mehr entdecken, gibt ihm der obere Kletterer einen kleinen Ruck mit dem Seil – gerade so viel, dass sein Kamerad den Aufstieg fortsetzen kann. Obwohl solche „Seilhilfe“ unter den professionellen Kletterern verpönt ist, verlangt eben die knallharte Realität so manche Konzession, und das ist in der psychotherapeutischen Praxis nicht anders.

      Frankl, der ein begeisterter Bergsteiger war, wusste das. Wenn möglich, umschiffte er direktive Anweisungen und konkrete Beeinflussungen seiner Patienten, aber er scheute nicht davor zurück, zu ihrem Wohl deutlicher zu werden, als es sonst in der Branche üblich ist. Dennoch bevorzugte er den „Sokratischen Dialog“, und auch ich halte die In-Frage-Stellung von Selbst- und Fremdbildern, Menschen- und Weltbildern für außerordentlich fruchtbar. Fragen locken Antworten hervor, und Antworten tasten nach Argumenten. Über plausible Argumente kann man in einen Dialog eintreten, der seinem Namen gerecht wird, indem der „logos“, um den sich die Debatte gerade entfaltet, aus mehrfacher Warte betrachtet und à deux sorgfältig herausgeschält

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