Logotherapie und Existenzanalyse heute. Elisabeth Lukas

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Logotherapie und Existenzanalyse heute - Elisabeth Lukas

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Im Gegensatz zu Ihnen, der – wie Sie andeuten – sich aus „Pietätgründen“ scheut, Frankls Zusammenstellung um eine fünfte kritische Zeitgeistströmung anzureichern, habe ich dies längst getan. Ich bin mir ziemlich sicher, Professor Frankl hätte es ebenfalls getan, hätte er die gegenwärtige Verfasstheit unserer Gesellschaft noch miterlebt. Ich habe diese fünfte „kollektive Neurose“ mit der grassierenden Cyberpathologie unserer Tage gleichgesetzt.15

      Natürlich gibt es viele verschiedene Lebenshaltungen, die philosophisch und ethisch fragwürdig sind und krisenträchtige Auswirkungen für die Betreffenden und ihr Umfeld haben. Nicht umsonst hat die Logotherapie in ihrer Methodik der „Einstellungsmodulation“ ein therapeutisches Gegenmittel zu einem ganzen Katalog von Fehlhaltungen geschaffen. Um aber von einer Zeitgeistströmung sprechen zu können, müssen ihr sehr große Bevölkerungsteile huldigen. Und das ist mit der Cyberpathologie der Fall. Wir schlagen mit ihr nicht nur ein Kapitel kollektiver Sucht auf, die wie ein Moloch insbesondere die Jugend in ihren Bann zieht. Wir betreten mit ihr auch just jenes Areal, zu dem die von Ihnen genannten Beobachtungen fugenlos passen. Denn bei Süchtigen finden wir immer

      1. eine hohe Anspruchshaltung: „Ich brauche das“… „Das steht mir zu …“, „Ich kann das Leben ohne das (Suchtmittel) nicht aushalten …“,

      2. eine geringe Dankbarkeit, weil sämtliche Werte am Wahrnehmungshorizont allmählich verblassen und nur noch das Suchtmittel zählt,

      4. eine Überspielung und Vertuschung der Abhängigkeit und Schwierigkeiten mittels erheblicher Lügen- und Selbstbetrugsenergie.

      Ich gebe Ihnen absolut recht, dass die beiden Basiselemente „zu wenig angemessene Furcht“ und „zu wenig Ehrfurcht (vor dem verpflichtenden Guten, will heißen: dem Guten, das zu dessen Wertschätzung und zu dessen Weitergabe im Rahmen eigenen Vermögens verpflichtet)“ die Stützpfeiler der Malaise sind. Obwohl der Süchtige eine ausgedehnte Phase des Hineinschlitterns lang genau weiß, dass er menschlich, physisch, sozial, pekuniär bergab rutscht, ist nicht genug Furcht vor dem Abgrund da, um ihn mit aller Kraft und gebündelter „Trotzmacht des Geistes“ (Frankl) zur Handbremse greifen zu lassen. Gleichzeitig ist zu wenig Ehrfurcht da, Ehrfurcht vor der Kostbarkeit seines Lebens, vor den ihm gewährten Freiräumen und Ressourcen, vor dem Willkommensein in der Welt und Gerufensein durch die Welt, vor der Einladung, sie liebevoll und verantwortlich mitzugestalten … Kaum dringt etwas davon mehr zu seinem betörten Gehirn und seiner umnebelten Seele vor – einzig die Gereiztheit und Ruhelosigkeit leise raunender und immer lauter pochender Entzugsqual dominieren und motivieren den Süchtigen …

      Nun hat es Suchterkrankungen von jeher gegeben. Wie konnte es aber zu einem solchen „Massenbefall“ wie der Cyberpathologie kommen? Daran dürften mehrere Faktoren beteiligt sein. Einerseits ist beständiger Fortschritt, kultureller, technischer wie wissenschaftlicher Fortschritt, geistesnotwendig.

      In der – nach Maßstäben der Evolution – kurzen Zeit, seit das Menschengeschlecht das Licht der Welt erblickt hat, sind ungeheuerliche Fortschritte erzielt worden. Dass wir inzwischen fähig sind, Atome zu spalten, Informationen drahtlos rund um den Erdball zu schicken oder uns ins All aufzuschwingen, grenzt an Wunder. Tatsächlich sind es Ausstrahlungen des „wundersamen“ Geistes, mit dem wir begabt wurden, und der danach strebt, alles Vorfindliche zu handhaben, seine eigene Intelligenz genauso wie die Früchte der ihn tragenden Erde. Geistiges kennt keine Stagnation, Geistiges ist ununterbrochen in Bewegung, ja, wie Frankl formuliert hat: „Geist ist reine Dynamis“ – Bewegung (nicht im Raum, sondern) im Sein. Fortschritt ist das Fort- und Voranschreiten des Geistes.

      Andererseits sind wir Wesen aus Fleisch und Blut, mit einer anfälligen und hinfälligen Physis und einer bunt zusammengewürfelten Psyche, in der die Emotionen und Kognitionen, Lust und Verstand, in einem kuriosen Gerangel miteinander liegen. Dieses „allzu Menschliche“ bremst das „spezifisch Menschliche“ immer wieder ein und umwölkt es mit Irrungen und Wirrungen und nicht zuletzt auch mit Unmenschlichkeit und Grausamkeit. Folglich kommt alles darauf an, dass beim zügigen Fortschritt der verantwortliche Umgang mit den Neuerungen, die der Fortschritt mit sich bringt, ebenso zügig mithält. Dieser Wettlauf zwischen den Erfindungen des Geistes und der Sensibilität des menschlichen Gewissens rollt seit Jahrtausenden ab; bislang ohne eindeutige Gewinner und Verlierer. Dass jedoch die Erfindungen des Geistes in diesem Wettlauf einen bedenklichen Vorsprung haben, hat bereits Frankl Sorgen bereitet, als er anmerkte, dass weder die althergebrachten Traditionen noch die angeborenen Instinkte den Menschen der Gegenwart mehr (sittliche) Orientierung zu spenden vermögen, und gefährliche Auswüchse („wollen, was andere tun“ bzw. „tun, was andere wollen“) in das entstandene Orientierungsvakuum hineinwuchern.

      Ich selbst habe die Erfindungen des Fernsehens, später des Computers, und mittlerweile des Smartphones miterlebt. Die Bildschirmfaszination, das Ergriffensein (im wahrsten Sinne des Wortes) von virtuellen Welten, das Unbedingt-dabei-sein-Wollen in der digitalen Moderne, die stürmische Begeisterung über ungeahnte und nie dagewesene Möglichkeiten … Das alles ist viel zu schnell über uns hereingebrochen, als dass sich irgendwelche Korrekturmechanismen hätten ausbilden können, zumal das bereits vorhandene Orientierungsvakuum solche erschwerte.

      Erfindungen sind an und für sich wertneutral. Dass Physiker Mechanismen errungen haben, mit denen Atome gespaltet werden können, impliziert keinen Atombombenabwurf. Dass Raketen die Anziehungskraft der Erde überwinden können, impliziert keinen Vernichtungsschlag „von oben“. Dass beliebige Fotos für jedermann zugänglich ins Internet gestellt werden können, impliziert keine Kinderpornographie im großen Stil. Solange das Gewissen die Technik an der Leine führt, kann und wird sie uns zum Segen gereichen. Nur wenn es die Leine loslässt – dann bewahre uns Gott!

      Der Cyberspace verlockt zum partiellen Ausstieg aus dem Zuständigkeitsbereich des Gewissens. So vieles darin ist bloß „Kino“, ist „Geflunker“, ist unecht. So vieles darin kann fantasiert, einfach behauptet, zu gemeinen Zwecken vorgegaukelt werden. Man kann zum Beispiel Folterszenen zur perversen Ergötzung der Betrachter nachstellen, ohne jemandem ein Haar zu krümmen. Mogelt man ein paar Videos von echt gepeinigten Personen darunter, fällt dies kaum auf. Der Ergötzungseffekt mag derselbe sein … Es ist brandgefährlich, wenn die Schranke zwischen Fantasie und Wirklichkeit wankt. Wenn die Überprüfbarkeit von Nachrichten schrumpft. Wenn User absichtlich auf falsche Fährten geleitet werden. Wenn unentwegt nichtige Botschaften von Wichtigem ablenken. Wenn kursierende Meinungen die Sachlichkeit verdrängen. Wenn der Glaube wächst, im Netz und nur dort stehe einem die ganze Welt offen … Wie soll sich das Gewissen des Einzelnen in diesem Getümmel von Realem, Irrealem, Surrealem auskennen? Das Gewisper im Äther lullt das Gewissen geradezu in den Schlaf.

      Batthyány: … und doch ist es, wie bei jedem Instrument, auch eine Frage, wie und wozu man es verwendet …

      Lukas: Freilich gibt es auch das dicke Plus des Fortschrittes. Das elektronische Gedächtnis speichert alles, was sich Menschen niemals merken könnten. Blitzschnell liegen auf jedwede Anfrage Antworten aus dem Erfahrungspool von Generationen auf dem Tisch. Blitzschnell kann mit weit entfernten bekannten oder unbekannten Personen kommuniziert werden, was ein gigantisches Gedankenaustauschprogramm ermöglicht. Es entstehen neue Transparenzen: Was hinter den Stirnen vorgeht, pulsiert plötzlich in einem öffentlich zugänglichen Datennetz. Und es entstehen neue Assistenten in Form von künstlicher Intelligenz und Robotik; Hausdiener, die beträchtlich weniger schwächeln als ihre Hausherren. Unser gesamtes Wirtschafts- und Zivilisationssystem wäre ohne sie bereits dem Chaos preisgegeben. Dass man von einer Hilfe abhängig wird, sobald man sie längere Zeit benützt, ist nicht zu verhindern. Autofahrer, die es gewohnt sind, von einem „Navi“ dirigiert zu werden, verlernen es, selbständig ihre Wege zu finden, u. Ä.

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