Logotherapie und Existenzanalyse heute. Elisabeth Lukas

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Logotherapie und Existenzanalyse heute - Elisabeth Lukas

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um wieder den Anschluss an die Gegenwart zu finden: Ihre Forschungsarbeit wurde 1971 am Institut für Psychologie der Universität Wien eingereicht. Vor dem Hintergrund Ihrer langjährigen therapeutischen Beobachtungen, klinischen Erfahrung und Lehr- und Vortragstätigkeit seither: Ich frage mich, ob diese Prozentsätze der Werteschwerpunkte heute – immerhin knapp 50 Jahre später – ähnlich verteilt wären, wenn man diese Messung erneut durchführen würde?

      Lukas: Nein, vermutlich würden die Prozentsätze heute anders aussehen. Ich vermute, dass sowohl die „Erlebniswerte“ als auch die „Einstellungswerte plus generalisierten Einstellungswerte“ unter die 25 %-Marke rutschen würden. Bei den „Erlebniswerten“ bin ich dessen nicht sicher, doch scheint mir, dass selbst überzeugte Internetfans das Surfen und Kommunizieren im Netz nicht mehr als „rein beglückendes Erlebnis“ erachten, sondern irgendwo zwischen Informationsgewinn, Zwang und Fesselung einordnen. Jedenfalls werden für sonstige beglückende Erlebnisse die Zeitfenster schmal. Für „Einstellungswerte“ angesichts von Leid dürften die schnell aufwallende Entrüstung und Wehleidigkeit verwöhnter Menschen arg groß sein. Und für „generalisierte Einstellungswerte“ fehlt vielerorts der Sensus der Dankbarkeit.

      2. WOHLSTAND UND DER MANGEL AN DANKBARKEIT

      Lukas: Dass man sich zu einem schweren und unabänderlichen Schicksal tapfer tragend und würdig einstellen kann, und dass dies eine beachtliche Sinnkomponente darstellt, ist für unsere Zeitgenossen überraschend genug. Dass man sich zu einem leichten und angenehmen Schicksal es würdigend einstellen kann, ja, dass es angemessen ist, sich an Erfreulichem zu erfreuen, klingt schon fast wie eine Farce. „Na logisch“, schreit der Verstand, und dennoch scheint es einer erheblichen Intelligenzakrobatik zu bedürfen, eine solche Würdigung zu vollziehen. Korrespondenten aus allen Erdteilen präsentieren uns Bilder des Grauens aus Hunger- und Kriegsländern, von Flucht, Vertreibung, Unterdrückung und Aussichtslosigkeit am laufenden Band, aber der „logische“ Abgleich mit unseren hiesigen selbst in Pandemiezeiten noch paradiesischen Bedingungen fällt aus. Im Gegenteil: Die Zahlen der seelisch angeknacksten und Therapie benötigenden Personen in unserem Kulturkreis steigen. Die Zufriedenheit sinkt.

      Batthyány: … und das wirft zugleich die Frage auf: Woran mag das liegen und wie ist das möglich? Wie kann mitten im Wohlstand – und für viele Menschen auch mitten im Überfluss – und in so starkem Kontrast zu anderen, nämlich viel entbehrungsreicheren Zeiten und Landstrichen, Undankbarkeit so epidemisch werden?

      Lukas: Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich einfach zu alt und zu sehr Kriegskind, um das zu verstehen. Die einzige Erklärung, die mir dazu einfällt, ist, dass positive Lebensbedingungen als solche überhaupt erst erkannt werden müssen. Ich habe unzählige Patienten gehabt, die (zu Recht) unglücklich waren – aber gewiss auch eine nicht zählbare Schar an Patienten, die nicht wussten, dass sie glücklich waren bzw. glücklich hätten sein können. Sie waren nicht imstande, ihre Lebensumstände als milde und schonend zu taxieren. Sie hatten keine Ahnung, was ihnen in ihrer Vergangenheit erspart geblieben war. Sie hatten keinen Schimmer, wie prächtig ihre Zukunftsoptionen aussahen. Sie waren für all das Gute rund um ihre Person mit völliger Ignoranz geschlagen. Dann kamen sie daher und meckerten über Banalitäten …

      Ist diese Methode brutal? Ich möchte die Frage verneinen. Manchmal müssen Menschen bis in ihr Innerstes aufgerüttelt werden, um ihre Grundeinstellungen neu zu überdenken. Manchmal sind es auch Erschütterungen, die das Leben selbst ihnen verpasst, auf Grund derer sie ihre Haltung radikal revidieren. Im Prinzip muss es niemandem gut gehen. Nirgends in der ganzen belebten Natur ist verankert, dass Pflanzen, Tiere oder Menschen unbehelligt ihr Dasein fristen können. Dahinwelken und Schmerzempfinden sind allgegenwärtig. Der Tod lauert überall. Was uns davon wie lange erspart bleibt, ist pures Göttergeschenk. Das zu wissen, ist das größte Geschenk!

      In einer Industriegesellschaft wie der Unsrigen müssen wir höllisch aufpassen, Glück nicht mit dem Besitz von Konsumgütern zu verwechseln. Freilich will die Industrie die Waren, die sie erzeugt, verkaufen und muss zu diesem Zweck das Bedürfnis nach ihren Waren ständig anheizen. Zufriedene Menschen geben aus ihrer Sicht zu wenig Geld aus. Allerdings gäbe es dazu eine Sinn-Alternative, nämlich die Verwirklichung von „generalisierten Einstellungswerten“. Mit ihnen ist ja nicht nur eine „das Positive würdigende“ Einstellung gemeint, sondern auch eine samariterhafte Einstellung. Austeilen kann nur derjenige, der Besitztümer hat. Helfen kann nur derjenige, der Hilfsmittel hat. Letztlich bedeutet das Gutgehen nicht bloß Anlass zur Freude, sondern auch Anlass, sich um das Schlechtgehende zu kümmern.

      Zufriedene Menschen geben zu wenig Geld aus? Sie brauchen es „zu ihrem Glück“ nicht für überflüssige, dem Begehren einsuggerierte Waren auszugeben, daher könnten sie es für ihre Mitmenschen ausgeben, speziell für diejenigen, die weniger Grund zur Zufriedenheit haben. Frankl war weise, als er davon sprach, dass den „Einstellungswerten“ die Superiorität zukommt. Sie evozieren menschliche Höchstleistungen. Ergänzen möchte ich, dass auch die „generalisierten Einstellungswerte“ zu menschlichen Höchstleistungen einladen. In einer Welt, in der die jeweiligen Glückspilze den jeweiligen Unglücksraben liebevoll ihre Hände entgegenstrecken würden, ließe sich für alle gut leben.

      3. EINE STÄRKE DES MENSCHEN: ANDERE MENSCHEN

      Batthyány: Das ist ein wertvoller Denkanstoß. Im Grunde geht er nämlich einen erheblichen Schritt weiter als Frankls Glücksbestimmung: Nicht nur ist Glück, was einem erspart geblieben ist. Es birgt auch zusätzlich einen „gesonderten“ Auftrag zur Selbsttranszendenz, also zum Blick über den Tellerrand des eben nicht nur bedürftigen, sondern auch dankbaren, großzügigen, wohlwollenden und zum Teilen bereiten Ichs.

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