Logotherapie und Existenzanalyse heute. Elisabeth Lukas
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Logotherapie und Existenzanalyse heute - Elisabeth Lukas страница 6
Wenn man dieses neue Syndrom mit Frankls Pathologie des Zeitgeists vergleicht, dann fällt zunächst einmal auf, dass die vier von Frankl beschriebenen kritischen Daseinshaltungen allesamt durch ein Element der Angst gekennzeichnet sind: In der provisorischen Geisteshaltung etwa herrscht eine grundlegende Angst vor der Zukunft vor. Es wird der Zukunft so stark misstraut, dass die Betroffenen gar nicht erst einen Sinn darin erblicken können, etwas aufzubauen, von dem sie aufgrund ihrer Zukunftsängste befürchten, dass es ohnedies nicht von Bestand und Dauer sein wird. In dieser entmutigten Geisteshaltung scheint es den Betroffenen fraglich, ob und weshalb sie sich überhaupt noch für etwas oder jemanden engagieren sollten, wenn doch ohnedies nicht gewährleistet ist, dass das, wofür sie sich einsetzen, nicht schon im nächsten Augenblick wieder bedroht oder tatsächlich vernichtet wird. Daher richten sie sich im Provisorium ein – ängstlich und mutlos auf den nächsten Schicksalsschlag wartend. Das Angstmotiv hier lautet: Angst vor der Zukunft und Angst vor Bedrohung.
In der fatalistischen Daseinshaltung hingegen überragt die Angst vor vermuteten und unerkannten Schicksalsmächten und unterminiert jegliche Initiative und freie und verantwortliche Lebensführung. Der Glaube an die Übermacht des Schicksals, das dem Einzelnen, so glaubt er, gar nicht erst die Möglichkeit der Entscheidungsfreiheit und Gestaltungsfähigkeit einräumt, ihn vielmehr zu einem hilf- und bedeutungslosen Rädchen im großen Schicksalswerk reduziert, untergräbt seine Gestaltungsmotivation:
Bei näherem Hinsehen ergibt sich, dass sich der Fatalist auf den Standpunkt stellt: Es ist nicht möglich, zu handeln, sein Schicksal in die Hand zu nehmen; denn dieses Schicksal ist übermächtig. Während der Fatalist fortwährend vorsagt, ein Handeln sei nicht möglich, denkt sich der provisorisch Eingestellte: Ein Handeln ist auch ganz und gar nicht nötig; denn wir wissen nicht, was morgen los sein wird.11
Das Angstmotiv des Fatalisten ist somit die Übermacht des Schicksals, nicht selten gepaart mit abergläubischer Furcht vor verborgenen Schicksalszusammenhängen (Unglückssymbolen, Horoskopen, schlechten Omen etc.).
Beim Kollektivismus dagegen ist das vereinfachende, oft stereotypisierende Gruppendenken meist nicht nur mit dem „Untergehen der Person in der Masse“ (Frankl) verbunden, sondern auch mit dem gleichzeitigen Aufbau eines Feindbilds – nämlich eines anderen Kollektivs (Out-Group): Tatsächlich bestätigt ja auch die sozialpsychologische Forschung, dass das sogenannte In-Group/Out-Group-Denken nur in dem Maße funktioniert, wie ein abzulehnendes und meist als feindlich wahrgenommenes Gegenkollektiv konstruiert wird: wir gegen die anderen bzw. die anderen gegen uns.12 Das Angstmotiv richtet sich hier also auf ein Feindbild, also alle jene, die gegen das eigene Kollektiv einstehen, weil sie andere Ideale oder Identifikationsmerkmale (in der Regel die eigenen) höher schätzen.
Im Fanatismus dagegen – auch das bestätigt die sozial- und einstellungspsychologische Forschung – herrschen andere Ängste vor: erstens die Angst vor den eigenen Zweifeln, die umso radikaler kompensiert werden müssen durch Loyalitätsbeteuerungen gegenüber der fanatisch verteidigten Meinung oder Einstellung13; zweitens aber auch die Angst vor der Gültigkeit oder Wahrhaftigkeit anderer, den eigenen Ansichten widersprechenden Überzeugungen. Denn deren Wahrhaftigkeit würde wiederum (in diesem Fall berechtigte) Zweifel an den eigenen Ansichten wecken, was seinerseits wieder als beängstigend erlebt wird.
Kurz: So unterschiedlich die vier von Frankl beschriebenen krisenträchtigen Daseinshaltungen auch geartet sein mögen, sie alle haben einen gemeinsamen Nenner im Faktor der Angst: Angst vor der Zukunft (provisorische Lebenshaltung), Angst vor dem Schicksal (fatalistische Lebenshaltung), Angst vor anderen Gruppen (kollektivistische Lebenshaltung) und Angst vor anderen Deutungen der Welt oder bestimmter Weltzusammenhänge bzw. Angst vor den eigenen Zweifeln (fanatische Lebenshaltung). Und allen gemein ist zudem, wie Frankl betonte, das Kernmerkmal der Scheu vor der eigenen Verantwortung.
Bei der von uns in unseren Forschungen gefundenen fünften Pathologie – also der übertriebenen Anspruchshaltung und der damit meist einhergehenden mangelnden Ehrfurcht vor der eigenen Freiheit und Verantwortung und dem Leben insgesamt – scheint es dagegen überraschenderweise so, als spiele Angst eine eher untergeordnete Rolle. Im Gegenteil gewinnt man bei dieser Daseinshaltung viel eher den Eindruck, es fehle diesen Menschen ein wenig an Angst oder zumindest Sorge – und vor allem auch an Realismus etwa mit Blick auf die Tatsache, dass wir in Wirklichkeit erstens gar keinen Anspruch darauf haben, dass das Leben uns jeden nur denkbaren Wunsch erfüllt und uns alle Herausforderung und Bewährungsproben und Leiden „erspart“ und zweitens – wie Frankl es formulierte – dass nicht wir das Leben fragen, sondern wir im Gegenteil die vom Leben Befragten sind. Um es mit den Worten von Frankls seinerzeitigem Assistenten an der Wiener Poliklinik Paul Polak zu sagen: Wir können dem Leben keine Bedingungen stellen. Aber eben dies scheint in dieser Daseinshaltung eines der Kernmerkmale zu sein.
Je mehr unsere Erhebungsdaten in diese Richtung weisen und zeigen, dass die von uns beobachtete kritische Daseinshaltung sich von den von Frankl beschriebenen kollektiven pathologischen Geisteshaltungen abhebt, desto deutlicher wird, dass wir es hier tatsächlich mit einer neuen, fünften pathologischen Geisteshaltung zu tun haben, die man am ehesten wie folgt beschreiben könnte: Das Gute und Angenehme wird wie selbstverständlich hingenommen („es steht mir zu“), zugleich werden die Herausforderungen des Daseins – sei es das eigene Leid oder das Leid der anderen, und überhaupt alles, was in irgendeiner Weise nach Bewährung und Aufforderung zu konstruktiver Teilnahme am Leben aussieht, aus der eigenen Vorstellungsund Lebenswelt verdrängt.
Interessanterweise hat Rudolf Allers, seinerzeit einer der frühen Mentoren Viktor Frankls aus dem ehemaligen Umfeld der Individualpsychologischen Vereinigung um Alfred Adler, in seiner Phänomenologie der Psychiatrie bereits einige dieser Merkmale im Amerika der 1960er Jahre beobachtet und sehr treffend wie folgt beschrieben:
Konflikte, Schwierigkeiten aller Art, die man früher in Kauf nahm und als unvermeidlich anerkannte, erscheinen heute vielen als ungebührliche Störungen ihres Behagens. Sie sind überzeugt davon, dass sie ein Anrecht auf ein leichtes Leben haben, und sehen daher im Konflikt nicht ein unausweichliches Moment der menschlichen Wirklichkeit, sondern ein Symptom. Überdies scheuen sie die Verantwortung, die jeder, auch nur einigermaßen folgenschweren, Entscheidung anhaftet. Daher sind sie nur allzu bereit, die Entscheidung anderen aufzubürden. Es ist nicht leicht zu sagen, ob man diese Menschen nun wirklich als Neurotiker ansehen soll (…) oder als Menschen, die in der Diagnose eine gültige Entschuldigung für ihre oft genug selbstverschuldete Lebensunfähigkeit finden und in der Behandlung einen Kompromiss zwischen ihrer Begierlichkeit und ihrer Feigheit.14
In der heutigen Erscheinungsform dieser Geisteshaltung kommen allerdings wie erwähnt unseren Erhebungen zufolge noch einige weitere Merkmale hinzu: Es mangelt in Folge der eben beschriebenen Anspruchshaltung erstens an Dankbarkeit, zweitens an Leidensfähigkeit angesichts des unabänderlichen Schicksals, drittens an Mitgefühl und viertens an Verantwortungsbereitschaft – wobei das letzte Kriterium diese Geisteshaltung wiederum eindeutig in die ursprünglich von Frankl ausgemachten Pathologien des Zeitgeists eingliedert. Ein Mangel an Verantwortungsbereitschaft ist ja gemeinsamer Nenner und Bindeglied zwischen allen bisher beschriebenen kritischen Daseinshaltungen.
Somit scheinen wir hier einem verhältnismäßig neuen psychologischen Phänomen zu begegnen, das in der Regelmäßigkeit seines Auftretens nahelegt, dass wir es tatsächlich mit einer fünften kollektiven Neurose zu tun haben.
Allerdings habe ich dies, gewissermaßen aus Respekt vor der Tatsache, dass Frankls „Pathologie des Zeitgeistes“ so harmonisch in sich abgeschlossen ist, noch nie publiziert oder als Ergänzung zur bekannten „Pathologie des Zeitgeistes“ vorgeschlagen.