Logotherapie und Existenzanalyse heute. Elisabeth Lukas

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Logotherapie und Existenzanalyse heute - Elisabeth Lukas

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hatte den Satz zwar immer wieder gelesen; aber bis er richtig „angekommen“ ist, dauerte es tatsächlich ziemlich lange. Aber heute scheint mir: Die Einsicht, die in diesem scheinbar kleinen Satz verborgen ist, ist nicht weniger als der Weg zu eben einer jener kopernikanischen Wenden, von denen Frankl im Zusammenhang von tiefen Erkenntnisprozessen und lebensverwandelnden Einsichten gesprochen hat.

      Ich will das an einem Beispiel illustrieren: Man geht zur Routineuntersuchung zum Arzt. Der Weg zu seiner Praxis ist eine dieser vielen alltäglichen Strecken durch die Stadt: Auf dem Weg kommt man an Blumenständen vorbei, an der Buchhandlung, an einigen Kleidungsgeschäften, an den Lebensmittel- und Blumenläden und Marktständen etc. Schließlich sitzt man im Wartezimmer der Arztpraxis, blättert in den dort ausliegenden Zeitschriften, liest sich vielleicht den einen oder anderen Artikel über Reiseziele, Rezepte und Theaterkritiken durch – und wird dann zum Arzt hineingerufen. Der Arzt begrüßt einen allerdings schon mit einem etwas ernsteren Blick und eröffnet einem dann überraschend, dieser oder jener Befund gefalle ihm nicht, dem müsse man weiter nachgehen, ob sich dahinter nichts Schlimmeres verberge. Jeder, der sich in diese Situation hineinversetzen kann, wird die Verwandlung der Welt nachvollziehen können, die eintritt, sobald diese Welt mit einem Male so unerwartet und grundlegend bedroht ist. Sie ist auf einmal in Frage gestellt. Und: Sie ist dadurch eine andere geworden. Auf dem Heimweg beobachtet man die Sorglosigkeit anderer – es ist genau dieselbe Sorglosigkeit, die man selbst auf dem Hinweg noch mit ihnen teilte, ohne sie allerdings je gewürdigt oder Dankbarkeit darüber empfunden zu haben. Man sieht auf dem Weg nach Hause dem alltäglichen Treiben auf der Einkaufsstraße zu, und es wird einem klar: „Diese Menschen haben etwas, was ich eben verloren habe: Sorgenfreiheit. Diese Sorgenfreiheit hätte ich auch gerne wieder.“ Eine Patientin formulierte es einmal sehr treffend: Sie sprach in eben diesem Zusammenhang von der „unerlebten Fröhlichkeit“ der Menschen, die gar nicht mehr wahrnehmen, wie sorglos und frei sie eigentlich durch die Einkaufsstraßen flanieren.

      Es wird einem in solchen Situationen unmittelbar bewusst, was für ein Glück es beispielsweise bis zu diesem Tag gewesen ist, alles das zu erleben, was auf dem Hinweg noch ein kaum je hinterfragtes oder etwa dankbar anerkanntes Geschenk gewesen ist: beispielsweise am Schaufenster einer Buchhandlung stehenzubleiben, sich einige der neuen Buchtitel anzusehen, die man als Nächstes lesen könnte, oder die Kleidung der kommenden Saison – und sich auf die kommende neue Jahreszeit zu freuen, oder die Vielfalt und Farbenpracht der Blumen des Blumenstands auf sich wirken zu lassen etc. Kurz: Auf einmal leuchtet einem auf, wie interessant, wie lebenswert, wie großzügig und wie sorgenfrei das Leben die meiste Zeit gewesen ist. Und mit diesem Gedanken wird einem klar, wie dankbar man die ganze Zeit über selbst für das scheinbar belanglose, „selbstverständliche“ Alltagsglück hätte sein können.

      Wenn man sich nun weiter vorstellt, dass man eine Woche später zum Nachfolgetermin geht – die Laborwerte liegen nun vor, und der Arzt eröffnet einem die gute Nachricht, dass alles in Ordnung sei; es war nur eine harmlose und vorübergehende Infektion, die die Blutwerte verfälschte, also ein Fehlalarm. Es lässt sich leicht ausmalen, wie nach dieser erfreulichen Nachricht auf dem Weg nach Hause dieselbe Einkaufsstraße in neuem Licht erstrahlt. Nur: Was ist dieses neue Licht eigentlich? Es ist das Licht der Dankbarkeit. Und Dankbarkeit wofür? Dafür, dass man nur seinen Alltag wieder hat; mehr ist ja nicht geschehen. Die eigentliche Wandlung fand daher im Inneren statt: das dankbare Bewusstsein, dass das vermeintliche belanglose und selbstverständliche Alltagsglück weder belanglos und schon gar nicht selbstverständlich ist, sondern eben ein Glück.

      Anders gesagt: Wir gewöhnen uns manchmal so sehr an das, was wir haben – und sind oft im selben Ausmaß so beschäftigt mit dem, was wir gerne hätten oder haben zu müssen glauben, dass die Dankbarkeit für das Gelungene, Heile, Gute atrophiert, also unterversorgt wird und abstirbt. Und dann ist es oftmals erst das Bedrohtsein oder der Verlust des bis dahin als selbstverständlich Hingenommenen, die uns vor Augen führen, wie beschenkt wir die ganze Zeit gewesen sind. Und wie blind für das Schöne, Gute und Gelungene wir womöglich diese ganze Zeit über waren.

      Kurz: Dieser scheinbar kleine Satz birgt auf gleich mehreren Ebenen eine tiefe und tatsächlich positiv lebensverändernde Weisheit. Er öffnet die Tür zu einer natürlichen und echten, weil eben begründeten und wirklich empfundenen Dankbarkeit – also einer Dankbarkeit, die nicht nur als „moralische Pflicht“ oder als Lippenbekenntnis dem Leben entgegengebracht wird, sondern die wirklich lebensnahe und erlebnisecht erfahrbar ist. Glück ist tatsächlich, was einem erspart bleibt.

      Lukas: Zu dieser Einsicht möchte ich Sie beglückwünschen. Aus dem enormen Fundus logotherapeutischer Einsichten haben Sie mit dem angesprochenen „Impuls“ etwas sehr Bedeutsames herausgepickt. Tatsache ist, dass die Dankbarkeitsvergessenheit grassiert wie eine böse Infektionskrankheit.

      Mir ist dies schon als junge Dissertantin Anfang der 1970er Jahre aufgefallen, und damals hielt sich die „Infektion“ noch in Grenzen. Die erbärmliche Kargheit der Nachkriegsjahre war den Erinnerungen vieler Europäer noch nicht entschlüpft. Trotzdem hatte der Wohlstand bereits seinen Siegeszug angetreten und damit ein irrationales Anspruchsdenken zu schüren begonnen. Die Kenntnis von Frankls Trilogie „Schöpferische Werte“, „Erlebniswerte“ und „Einstellungswerte“ im Hinterkopf ging ich damals im Zuge meiner Dissertation daran, nach einer Befragung von 1000 Zufallspersonen die erhaltenen Antworten auf deren Werteladung abzutasten. Dabei fiel mir auf, dass es eine Reihe von Antworten gab, die auf meine Frage nach Sinnfindung im Leben die Freude über positive Faktoren und/oder die Bereitschaft, diese eigenen Schätze mit anderen Menschen zu teilen, benannten. Diese Antworten streiften lediglich die „Erlebniswerte“ und ähnelten eher den „Einstellungswerten“ mit umgekehrten Vorzeichen. Offenbar gibt es nicht nur großartige und sinnorientierte Einstellungen zu Kummer und Leid, sondern ebensolche zu den Gnadenfüllhörnern, die sich gelegentlich über uns öffnen.

      Der historischen Vollständigkeit willen ist vielleicht noch zu erwähnen, dass Ihr Doktorvater, der damalige Ordinarius für Psychologie der Universität Wien, Giselher Guttmann – als Schüler von Hubert Rohracher ein Vertreter derjenigen, die die Psychologie als streng empirische Wissenschaftsdisziplin betrachten und zudem auch ein Pionier der Neuropsychologie –, nicht zuletzt unter dem Eindruck der von Ihnen erhobenen Daten zunehmend den Wert der Logotherapie sowohl als Persönlichkeitstheorie als auch als Psychotherapie zu erkennen begann.

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