Lebendigkeit entfesseln. Silke Luinstra
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Wir könnten jetzt noch eine Weile weitersprechen über die Folgen fehlender Lebendigkeit, doch ich habe den Eindruck, darüber wurde in den letzten Jahren genug geschrieben und gesprochen. Bücher, Wochenendausgaben der Tageszeitungen, Fachzeitschriften, Podiumsdiskussionen – überall setzt sich die Erkenntnis durch, dass es anders werden muss. Wir haben hier offenbar kein Erkenntnis-, sondern ein Handlungsproblem. Dabei ist es bitter nötig, zu agieren, denn nicht nur für Einzelne und Unternehmen hat das Fehlen der Lebendigkeit gravierende Folgen, sondern auch für ganze Gesellschaften.
Der Verantwortungsmuskel
Das, was ich auf den letzten Seiten erzählt habe über Jochen, Kathrin und meine Tochter Rianna sowie über unsere Unternehmen, hat nicht nur Folgen für deren Leben beziehungsweise Existenz, sondern es wirkt sehr spürbar in unsere Gesellschaft hinein. Wir sollten daher das Thema der Lebendigkeit in Organisationen nicht diskutieren, ohne auf die Auswirkungen auf die größeren Kontexte zu schauen. Selbstverständlich sind florierende Unternehmen wichtige Elemente für jede Gesellschaft, sorgen sie doch für lebensnotwendige Güter, für Einkommen der Bürger, für Steuereinnahmen und funktionierende Sozialsysteme. Doch neben guten Zahlen, die den Fortbestand eines Unternehmens sichern, ist noch etwas anderes mindestens ebenso wichtig: Es sind die Erfahrungen, die wir alle jeden Tag an unseren Arbeitsplätzen machen. Denn was Sie als Mitarbeiter erleben, nehmen Sie auch mit in Ihre Rollen als Mütter, Söhne, Freunde, Freiwillige und Bürger.
Lassen Sie uns einen Moment die Rolle des Staatsbürgers fokussieren. Die Nachrichten der letzten Monate und Jahre sind voll mit Botschaften von Bürgern: Die Amerikaner wählten 2016 einen Präsidenten, der versprach, Amerika wieder groß zu machen. Die Briten verschafften Boris Johnson, der das Land aus der EU führen wollte, eine satte Mehrheit. Bei Landtagswahlen in Deutschland kam die rechtsgerichtete AfD auf Werte nahe 30 Prozent. Für diese Phänomene gibt es mit Sicherheit keine einfachen Erklärungen, und doch vermute ich aufgrund der Tatsache, dass wir Erfahrungen in alle Rollen mitnehmen, einen Zusammenhang mit unserem Thema der Lebendigkeit.
Wer jeden Tag den Konkurrenzdruck spürt und sich vielleicht sogar als Verlierer in diesem Kampf fühlt, neigt vermutlich zu jemandem, der alte Stärke verspricht. Nicht zufällig verfangen Wahlversprechen wie »Make America great again« vor allem dort, wo Menschen das Gefühl haben, den Konkurrenzkampf verloren zu haben.
Wer im Job immer wieder eine Gegen-die-anderen-Dynamik erlebt, macht sein Kreuz eher bei einem Kandidaten, der die eigene Identität durch Abgrenzung von anderen Gruppen stärkt. Wer im Job ständig gesagt bekommt, was er zu tun und zu lassen hat, sucht auf politischer Ebene vermutlich auch eher jemanden, der einfache Lösungen verspricht und den Menschen die Verantwortung eher abnimmt als zumutet. Das soll überhaupt nicht heißen, dass Menschen nicht in der Lage wären, Verantwortung zu übernehmen. Das wäre ausgemachter Blödsinn. Menschen übernehmen immer Verantwortung in ihrem Leben – sie führen Vereine, bauen Häuser und erziehen Kinder.
Doch mit der Verantwortung ist es ein bisschen wie mit Muskeln: Wenn sie nicht trainiert wird, ist sie weniger stark. Und wenn nun der Verantwortungsmuskel acht Stunden am Tag ruht, wird es mit dem Sprint nach Feierabend schwieriger. Es ist sogar schon so weit, dass selbst geschätzte Fachkollegen es ausdrücklich nicht als Armutszeugnis betrachten, wenn Menschen keine Verantwortung übernehmen wollen. So las ich es vor einigen Wochen in einem Essay. »Es ist kein Armutszeugnis, wenn jemand von sich sagt, lieber keine Verantwortung zu wollen.« Doch, ich finde, das ist es! Das ist sogar dramatisch! Wir brauchen mehr denn je Menschen, die zu Verantwortung bereit sind, und wir müssen uns fragen, wie Kontextbedingungen gestaltet sein müssen, damit Menschen in Verantwortung gehen. Wir müssen ihnen Gelegenheit geben, ihren Verantwortungsmuskel zu trainieren. Es wäre ein großer Fehler, sich in einem System einzurichten, in dem Menschen ihre Verantwortung dauerhaft delegieren.
Mit der Verantwortung ist es wie mit Muskeln: Wird sie nicht trainiert, ist sie weniger stark.
Vor allem wegen dieser Konsequenzen ist mir die Lebendigkeit in Organisationen so wichtig. Nur die Unternehmen zu optimieren, das wäre mir zu wenig. Es ist vielmehr notwendig, dass wir die Wirkungen der in unseren Unternehmen herrschenden Systeme auf allen Ebenen betrachten. An der Stelle haben wir in der Vergangenheit doch das ein oder andere Auge zugedrückt oder uns gleich beide Augen fest zugehalten.
Wir feiern technischen Fortschritt und Innovationen – und übersehen die ungleiche lokale wie globale Verteilung der Gewinne aus diesen Errungenschaften. Wir feiern eine Vervielfachung der industriellen Produktivität – und übersehen die ökologischen Konsequenzen dieses Wohlstandsanstiegs. Wir feiern individuelle Leistung – und übersehen diejenigen, die unserer Unterstützung bedürften, weil sie aus welchen Gründen auch immer weniger zu leisten imstande sind. Wir feiern persönliche Freiheit – und übersehen die unterschwelligen Fesseln. Wir feiern freie Märkte und Konkurrenz – und übersehen ihr Versagen an wichtigen Stellen und den bisweilen belastenden Druck, den sie auf viele ausüben. Das sind nur einige Aspekte, die wir bisher ausblenden. Echte Lebendigkeit kann es nur geben, wenn wir beide Augen aufmachen.
Es geht um nichts weniger als die Frage, was für eine Welt wir unseren Kindern hinterlassen wollen. Das macht uns die nachfolgende Generation mit ihren Protesten mit einer Vehemenz deutlich, wie es junge Menschen zuvor selten getan haben. Sie fokussieren dabei vor allem auf die ökologische Katastrophe – doch ich fürchte, die soziale könnte mindestens genauso einschneidend werden.
Sollten Sie angesichts meiner letzten Zeilen einen Anflug von Frust erleben, so ist das weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidbar (frei nach Heinrich Böll). Frust ist natürlich nie angenehm, aber wichtig! Aus der empfundenen Diskrepanz zwischen Soll und Ist entsteht Tatkraft. Insofern nehme ich Ihren Frust an dieser Stelle billigend in Kauf. Doch wie kommen wir aus der Nummer raus? Wie können wir unsere Unternehmen und unsere Gesellschaft wiederbeleben? Was die Unternehmen betrifft, gibt es da nicht längst ermutigende Ansätze, die unter dem Stichwort »New Work« diskutiert und praktiziert werden? Ist das schon die Lösung? Lassen Sie uns genauer hinschauen!
Eine neue Neue Arbeit?
Wenn ich mit Gesprächspartnern über meine Arbeit und meine Gedanken spreche, höre ich oft: »Ach, Sie gehören also wohl auch zu dieser New-Work-Bewegung?«
Meine kurze Antwort ist dann meist: »Nein.« Die etwas längere: »Ich finde viele Diskussionen, die von New-Work-Aktivisten in den letzten Jahren angestoßen wurden, wichtig. Gleichzeitig fremdele ich sehr mit dem, was mir unter der Flagge ›New Work‹ alles so begegnet. Immer noch.«
Ernsthaft?
Ein kalter Januarabend im Jahr 2016 in Berlin, der Saal des Museums für Kommunikation ist festlich geschmückt, es leuchtet und glitzert. Ein Preis für »Neue Konzepte der Arbeit« wird verliehen. Drei Gewinner. Platz drei ging an ein Unternehmen, das die Arbeitswoche auf 36 Stunden verkürzt und auf vier Tage verteilt hat. Mein erster, spontaner Gedanke? »Ernsthaft? Ihr zeichnet ein Unternehmen aus, das die Arbeitszeit anders verteilt?« Ich fragte mich, ob ich es wirklich als Vorteil werten sollte, vier lange statt fünf kürzere Tage zu arbeiten.
Ja, das war 2016, da hat sich doch viel getan, mögen Sie denken. Nun, 2017 gewann ein großes, international tätiges Unternehmen denselben Preis dafür, dass die Mitarbeiter »überall gleichermaßen gut arbeiten« können und 70 Prozent der Belegschaft mindestens einmal pro Woche unterwegs oder zu Hause arbeiten. 2018 war wieder ein Unternehmen mit 4-Tage-Woche