Ein Junge liebt ein Mädel: Annemarie Land. Robert Heymann
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Wieder tauchte vor seinem geistigen Auge ihre schlanke Gestalt auf, er sah die wunderbaren Haare. Er musste an den schmalen, blendend weissen Hals und die feine, leidenschaftliche Linie um ihre Mundwinkel denken.
Seltsam, sann er. Ist es nicht wie ein Wunder, diese keusche Mädchenblüte in dieser weltverlorenen Einsamkeit?
Er hatte bisher keine Zeit gefunden, sich mit Frauen zu beschäftigen. Als er das Gymnasium verlassen, war er zu jung gewesen, um ähnlichen Gedanken nachzuhängen. Und dann hatte ihn der Ernst des Lebens ganz beansprucht.
Er lächelte mit leisem Spott über sich selbst, als er daran dachte, dass er doch nur ein Gymnasiast war! — —
Um elf Uhr fand er sich wieder bei Pastor Winkelmann ein. Der Alte sass bereits am Tisch.
„Ich denke, wir nehmen gleich Sophokles vor“, begann er, ganz geschäftig, dabei gemütlich über die Brillengläser schielend.
Gerhard vertiefte sich sogleich in den Unterricht. Aber jeden Moment ertappte er sich selbst dabei, wie er die Augen nach der gegenüberliegenden Tür richtete, in der Hoffnung, Lieselotte zu sehen.
Aber er hörte nur ein leises Singen wie Vogelgezwitscher.
Indessen verbreitete sich Pastor Winkelmann über Inhalt und Bedeutung der Dramen, über Sophokles als Tragödiendichter überhaupt, über die Harmonie seiner Charaktere . . .
Pastor Winkelmann hatte nichts von dem Schwung, den die Begeisterung verleiht. Er lehrte in einem schwerfälligen, dogmatischen Ton. Gerhard musste an seinen Ordinarius denken, an Professor Ebers, dem sie alle, die Wissensdurstigen wie die Gleichgültigen in derselben Liebe anhingen. Wie ganz anders konnte der über Sophokles reden!
Nicht jeder, ach, nur wenige besassen die Kunst, die Jugend und ihren Durst nach Schönheit, ihre Auffassungsgabe so zu verstehen wie Erich Ebers, den seine Schüler kurzweg den ,,Vogel“ nannten. Auf breiten Schultern sass sein mächtiger Kopf mit scharf geschnittener Nase, schmalen Lippen und tief in den Höhlen liegenden Augen.
Über der hohen Stirne trug er das Haar wie Federn zurückgelegt, und so erinnerte sein Gesicht tatsächlich an einen Vogel. Wenn aber seine Augen in Begeisterung glänzten, dann war es wiederum, als sähe man in die Augen eines Raubvogels.
Solche Gedanken gingen Gerhard durch den Kopf. Kein Wunder, dass er auf die Fragen seines Lehrers zerstreute Antworten gab und seine Geduld auf eine harte Probe stellte.
„Na, Brausewetter, mir scheint fast, Sie träumen?“ fragte Pastor Winkelmann und sah seinem Schüler erstaunt ins Gesicht.
Der fuhr aus seinem Sinnen auf. Aber die Uhr schlug eben ächzend zwölf und enthob ihn so der Antwort.
Lieselotte steckte den Kopf durch die Tür:
„Darf ich den Tisch decken?“
Pastor Winkelmann blieb in seinem Vortrag stekken, sah sich um und beeilte sich zu sagen:
„Gewiss, Lissy!“
Gerhard blieb am Tisch sitzen und sah Lieselotte zu, wie sie ein Tischtuch, Teller und Bestecke in das Zimmer trug.
Aber sie warf nur einen forschenden Seitenblick nach ihm, während sie geschickt und mit reizenden Bewegungen den Tisch deckte. Sie war jünger als Gerhard Brausewetter, siebzehn vielleicht, war aber hoch aufgeschossen und kräftig und konnte wohl für älter gelten.
Während der Mahlzeit sass sie schweigsam. Der Pastor plauderte über die alten Griechen; Gerhard aber war ein unaufmerksamer Zuhörer. Entweder hielt er den Blick auf seinen Teller gebannt, oder er sah zu Lieselotte hinüber. Sie hielt meist das Gesicht dem Fenster zugewandt, wo sich ihr Blick über die grünen Wiesen hinweg in der Ferne verlor.
Nach Tisch hielt Winkelmann sein gewohntes Schläfchen, Lieselotte verschwand, und der Gymnasiast ging in den Garten.
Seltsam — dachte er. Alle jungen Mädchen sind sonst ausgelassen und lachen viel. Er hatte Lieselotte noch nicht lachen hören. Er sah sie auch in den folgenden Tagen nicht lachen. Sie blieb immer ernst und ruhig, war auch viel sicherer in ihrem Benehmen als Gerhard. Der war plötzlich von einer unklaren Unruhe ergriffen worden. Umsonst nahm er frühmorgens die Bücher vor, stützte den Kopf zwischen die Fäuste und versuchte zu arbeiten.
Es ging nicht, es wollte nicht gelingen! Die Gedanken flatterten nach allen Seiten auseinander, bis er schliesslich die Bücher in eine Ecke warf und das Haus verliess, die Höhen hinaufstieg, der Sehnsucht nach, die immer in ihm lebte, die ihn nicht mehr verliess, seitdem er hierher gekommen war — eine grosse, gewaltige, unfassbare Sehnsucht, deren dunkle Stimme er noch nicht völlig begriff.
2
Es war eine kampfesreiche, schwere Zeit, die hinter dem Gymnasiasten lag. Sein Vater war Arzt in einem kleinen norddeutschen Landstädtchen gewesen, er hatte sich für seinen Beruf geopfert und war schliesslich fast ebenso arm gestorben wie damals, als er seine Praxis begonnen hatte.
Für seine Witwe, eine immer noch jugendlich schöne Frau, blieb kaum das Nötigste zurück. Das war eine düstere Zeit damals, als Gerhard aus dem Gymnasium nach Hause kam und ahnungslos in das Sterbezimmer seines Vaters geführt wurde. Noch drückender aber wurde das Leid um den Toten, als Frau Brausewetter mit ihrem Sohn die gänzlich veränderten Verhältnisse besprach.
Gerhard Brausewetter hatte Arzt werden wollen wie sein Vater — ein paar Jahre noch, und die Pforten des Gymnasiums hätten sich hinter ihm geschlossen. Das rührende und in seinen Ehrbegriffen fast spartanische Vorbild des Vaters hatte eine unauslöschliche Begeisterung für den ärztlichen Beruf in ihm wachgerufen.
Da, in dieser traurigen Stimmung eines nebeligen Novembertages, zerrann dieser Traum in nichts, da trat zum erstenmal die unbarmherzige Wirklichkeit in den Kreis der Vorstellungen dieses Jünglings, der bisher vor jeder Enttäuschung bewahrt geblieben war.
Die rasche Art des Entschlusses hatte er von dem Vater geerbt. Er sah ein, dass er unmöglich noch zwei Jahre hindurch seiner Mutter die Last finanzieller Opfer für ihn aufbürden konnte. Im Gegenteil: wenn nicht die Sorge den Lebenskreis dieser Frau verdüstern sollte, die er nicht nur als Mutter zärtlich liebte, der er fast eine scheue Verehrung entgegenbrachte, so musste etwas geschehen, um eine Katastrophe zu verhindern.
Nächte hindurch hatte damals Gerhard Brausewetter, in Nachdenken versunken, wach auf seinem Lager gelegen, bis er sich endlich den schweren Entschluss abgerungen hatte: das Gymnasium zu verlassen, mit allen Kräften zu versuchen, eine Lebensstellung zu erringen, die, mochte sie vorläufig noch so gering sein, ihn wenigstens selbständig machte; so dass die Mutter das Wenige, was sie besass, für sich allein aufwenden konnte.
Sie hatte zwar anfangs leidenschaftlichen Widerstand geleistet, aber die Verhältnisse wären stärker — bald, nachdem Dr. Brausewetter der Erde gegeben war, verliess sein Sohn das Gymnasium und trat bei einem angesehenen Kaufmann in Darmstadt, wohin Frau Dr. Brausewetter übersiedelte, in die Lehre.
Der Kaufherr Friedrich Sturm erfuhr bald, wie sich in einer kleinen Stadt eben Ungewöhnliches schnell herumspricht, von dem Schicksal seines Lehrlings, dem er besondere Sympathie entgegenbrachte. Einmal in seinem neuen Wirkungskreis, bot Gerhard Brausewetter alles auf, so schnell wie möglich vorwärts zu kommen, und erwarb sich so neben der Achtung auch das besondere Vertrauen seines Chefs, so dass er schon nach Ablauf eines Jahres in der Lage war,