Die Frau am Meer. Ursula Isbel-Dotzler
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Читать онлайн книгу Die Frau am Meer - Ursula Isbel-Dotzler страница 4
»Sie hat das Fliegen nicht vertragen«, erklärte Onkel Harald, nahm sie um die Schultern und zog sie ins Haus. »Wo sind die Kinder hin?«
»Die haben sich versteckt, denke ich. Dabei sind sie so neugierig auf dir, Fanny.«
Nach einigem Sträuben ließ sich Tante Helen überreden, wieder ins Bett zu gehen. Barfuß tappte sie über die Steinfliesen der Halle und flatterte in ihrem blauen Kimono die Treppe hinauf, während Onkel Harald und ich mit meinem Rucksack folgten.
Allein der Hausflur und der breite Treppenaufgang waren ungefähr so geräumig wie ein normales Einfamilienhaus, voll gestellt mit dunklen Möbeln. Überall hingen Spiegel und Wandteppiche und Bilder, Porträts irgendwelcher Leute, die ich ziemlich finster und hässlich fand. Ein Geruch von Staub und Moder und Mäusedreck hing in der Luft.
Während wir nach oben gingen, wurde ich das Gefühl nicht los, aus jedem Winkel und hinter jedem Schrank hervor von Kinderaugen beobachtet zu werden. Wahrscheinlich hielten sich Rian und Sally irgendwo verborgen und musterten mich, wie ich an der Seite ihres Vaters über die Galerie ging, von der man in die Halle hinuntersah, und weiter durch verwinkelte Gänge, über Stufen, Zwischengeschosse und um dunkle Ecken herum. Tante Helen war längst hinter einer der vielen Türen verschwunden.
»Wie viele arme Teufel haben sich hier schon verirrt und sind irgendwo in einem Winkel verschmachtet?«, fragte ich.
Onkel Harald lachte laut. »Man gewöhnt sich daran«, sagte er. »Aber du könntest anfangs Reis oder Brotkrumen streuen, bis du den Weg nach unten kennst.«
Das Zimmer, das ich während der kommenden Wochen bewohnen sollte, wirkte jedenfalls sehr hell und gemütlich, trotz des dumpfen Geruchs, der auch hier in der Luft hing.
Es war ungefähr fünfmal so groß wie mein Zimmer zu Hause. In einer Nische stand das Bett, ein Himmelbett mit gedrechselten Säulen und einer Art Baldachin aus durchsichtigem weißen Stoff. Es gab einen Schreibtisch mit vielen Schubladen, ein Sofa, zwei geblümte Polstersessel und einen offenen Kamin. Die helle Tapete mit dem Muster aus Heckenrosenblüten gefiel mir; das Muster wiederholte sich in den Vorhängen, die in üppigen Falten bis zum Boden reichten. Mein Zimmer hatte drei hohe Fenster. Vor dem mittleren stand ein Bambustisch mit einer Vase voller Wiesenblumen.
»Schön«, sagte ich, während Onkel Harald meinen Rucksack abstellte.
Er nickte flüchtig, ehe er sich zur Tür wandte. »Das Bad ist am Ende dieses Flurs«, sagte er noch. »Du teilst es mit den Kindern. In ungefähr einer halben Stunde gibt’s Essen. Mrs Potter hat Eintopf vorbereitet, glaube ich. Käse müsste auch noch im Kühlschrank sein.«
»Und wie finde ich das Speisezimmer?« Ich nahm an, dass in einem Haus wie diesem immer im Speisezimmer gegessen wurde, doch er erwiderte: »Wir essen in der Küche, wenn nicht gerade Gäste da sind. Sally wird dich abholen, damit du dich nicht verirrst.«
Als er verschwunden war, ging ich durchs Zimmer und schob eines der Fenster hoch. Sofort strömte wunderbar frische, prickelnde Luft herein, die nach feuchtem Laub und Seetang roch; und als ich den Kopf aus dem Fenster streckte, sah ich, dass jenseits des Gartens, hinter den Rhododendronhainen und einem Eichenwäldchen, das Meer war, eine steil abfallende Küste mit zerklüfteten Klippen und sandigen Buchten, die das Wasser aus den Felsen gespült hatte.
Das Rauschen und Tosen der Wellen war von hier kaum zu hören. Seevögel kreisten am Himmel, getragen vom Wind. Als ich mich weiter über den Fenstersims beugte und den Kopf nach rechts drehte, bemerkte ich in der Ferne, am Ende des Küstenstreifens, einen Felsen. Er ragte wie ein Turm aus dem Meer, gekrönt von den Mauerresten einer alten Burg.
Ich erkannte sie auf den ersten Blick. Obwohl ich nie zuvor an Cornwalls Küste gewesen war, hatte ich die graue Festung über dem Atlantik schon viele Male gesehen. Es war die Burg aus meinem Traum.
5
Sally stand wie ein scheuer Waldgeist vor meiner Tür, mit wirren dunklen Haaren und Koboldaugen in dem herzförmigen Gesicht. Ihre Haut war gebräunt; nur die Spitze ihrer Nase leuchtete weiß vor Aufregung. Erst später erfuhr ich, dass sie den Kosenamen »Pooka« hatte, ein keltisches Wort für Waldgeist.
»Hallo, Sally«, sagte ich. »Schön, dass du mich holen kommst.« Ich redete Englisch mit ihr. Englisch war immer schon mein Lieblingsfach gewesen. Ich hatte es spielend leicht gelernt, leichter als deutsche Grammatik. »Ohne dich würde ich mich wahrscheinlich hoffnungslos verirren und ihr würdet meine Gebeine eines Tages in irgendeinem Winkel finden.«
Sie lachte nicht und ich kam mir dumm vor. »Erinnerst du dich an mich?«, fragte ich, während ich die Tür hinter mir zuzog.
Sie nickte stumm. Dann fiel mir nichts mehr ein. Schweigend trabten wir nebeneinander her, durch Gänge und dämmrige Seitenflure, über Podeste und dazwischen immer wieder drei oder vier Stufen abwärts, bis ich ganz wirr im Kopf war.
»Hast du dich hier schon mal verlaufen?«, fragte ich, als wir die Galerie mit den finsteren Ahnen erreichten.
Sie schüttelte den Kopf.
»Du müsstest jetzt elf sein, nicht? Lass mich mal nachrechnen. Als ihr uns besucht habt, warst du ungefähr drei …«
Sie sah mich kurz von unten herauf an. Dann erwiderte sie mit heller, ein wenig rauer Stimme: »Zehneinhalb.«
Die Küche war am anderen Ende des Hauses. Meiner Schätzung nach brauchte ich von meinem Zimmer aus fast zehn Minuten, um sie zu erreichen. Sie war schön, eine geräumige, gemütliche Küche wie in alter Zeit, mit dunklen Deckenbalken, einer Glastür, die in den Garten führte, einem langen, glänzenden Eichentisch mit zehn steiflehnigen Stühlen drumherum und einem gewaltigen offenen Kamin.
Onkel Harald stand am Herd, einen Kochlöffel in der Hand. Rian kauerte auf einem Stuhl und verteilte das Besteck.
»Helen isst nicht mit«, sagte mein Onkel. Er hob den Topfdeckel und ließ ihn sofort wieder fallen. »Verdammt, ist das heiß! Wo ist der Topflappen hingekommen? Sie schläft jetzt. Ich hoffe, es geht ihr bald wieder besser. Diese Migräneanfälle können bei ihr bis zu drei Tage dauern. Übermorgen müssen wir schließlich los.«
Ich erschrak, als mir bewusst wurde, dass ich bereits in zwei Tagen mit den Kindern allein in diesem riesigen Haus Zurückbleiben würde. Zwar war da noch Mrs Potter, die offenbar fast täglich vorbeikam, um sauber zu machen und zu kochen, aber hatte mein Vater nicht gesagt, sie wäre etwas wunderlich?
»Setz dich doch«, sagte Onkel Harald. »Rian, reich mir Fannys Teller, bitte.«
Die Kinder nahmen rechts und links von ihrem Vater Platz, mir gegenüber. Während ich den Bohneneintopf löffelte, beäugten sie mich verstohlen. Der Eintopf schmeckte gut; nur die Hammelfleischstücke schob ich an den Tellerrand.
»Isst du kein Fleisch?«, fragte mein Onkel. Er redete jetzt Englisch mit mir, wohl, damit die Kinder unserer Unterhaltung folgen konnten.
Ich erklärte in einem etwas holprigen Satz, dass ich Tiere liebte und mich deshalb nicht von ihrem Fleisch ernähren wollte. »Ich esse meine Freunde nicht«, sagte ich.
Sally und Rian starrten mich an. »Aha. Du scheinst eine junge Frau mit Prinzipien zu sein.« Onkel Harald schmunzelte.
Dann