Die Frau am Meer. Ursula Isbel-Dotzler

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Die Frau am Meer - Ursula Isbel-Dotzler

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      Am Morgen von Onkel Haralds und Tante Helens Abreise verschwand Rian. Tante Helens Pass war gefunden worden; er war zwischen irgendwelche Papiere gerutscht. Doch jetzt war Rian weg und alle suchten nach ihm.

      »Dieses Kind kostet mich noch den letzten Nerv!«, klagte Tante Helen in komischer Verzweiflung.

      »Er hat sich bloß versteckt«, meinte Sally. »Das tut er nur, weil er will, dass du hier bleibst, ganz klar.«

      »Ich zieh ihm die Ohren einen Meter lang, wenn ich ihn finde!«, drohte Onkel Harald und stolperte über eine Reisetasche, die mitten in der Halle stand. »Verdammt, wer hat das Ding hierher gestellt?«

      Tante Helen seufzte. »Du selbst, Darling. Wie viel Zeit haben wir noch?«

      »In fünfunddreißig Minuten müssen wir los, ganz gleich, ob diese kleine Nervensäge bis dahin aufgetaucht ist oder nicht.«

      Wir schwärmten wie die Pfadfinder in verschiedene Richtungen aus und suchten. Ich blieb Sally auf den Fersen, teils, weil ich mich weder im Haus noch im Garten auskannte, teils, weil ich vermutete, dass sie Rians Verstecke am besten von allen kannte.

      Mittendrin tauchte Mrs Potter auf. Sie war eine knochige, unzugänglich wirkende Frau mit strähnigen nussbraunen Haaren und entzündeten Augenlidern. Ich merkte bald, dass sie die nervtötende Angewohnheit hatte, in ungleichmäßigen Abständen zu schnüffeln. Manchmal hatte sie richtige Schnüffelattacken, wie die Kinder es nannten.

      Sie gönnte mir nur einen kurzen, abschätzenden Blick, ehe sie sich wie ein Hund umsah, der Witterung aufnimmt, und sagte: »Der hat sich im alten Hühnerhaus verkrochen, darauf könnte ich wetten!«

      Wir trabten zum Hühnerhaus, einem windschiefen Anbau aus Holz, fast erdrückt von Efeuranken und einem Eibenbusch. Die Klappläden vor den winzigen Fenstern waren geschlossen, sodass wir vom hellen Morgenlicht plötzlich ins Dunkel kamen, als wir die Tür öffneten, und nichts als die schattenhaften Umrisse eines Holzstoßes und einen Haufen alter Gartenmöbel sahen.

      »Rian, bist du hier?«, rief Onkel Harald. »Komm sofort raus oder du kannst was erleben, verdammt noch mal!«

      Ich bezweifelte, dass er mit dieser Aufforderung viel Erfolg haben würde.

      »Rian«, flehte Tante Helen, »sei lieb und komm heraus, ja? Findest du es nicht ein bisschen unfair, uns so unter Druck zu setzen? Wir haben doch alles mit euch besprochen und es sind ja auch nur vier Wochen. Und Fanny ist da, ihr werdet sicher eine Menge Spaß miteinander haben!«

      Während sie noch redete, marschierte Mrs Potter in das düstere, staubige Innere der Hütte, zwängte sich zwischen einer Art Werkbank und einem Stapel Zaunlatten durch, bückte sich, wobei etwas polternd zu Boden fiel, und zog Rian hinter einer Kiste hervor.

      »Hier haben wir dich, Bürschchen!«, sagte sie und schnüffelte triumphierend. »Mich führst du nicht an der Nase herum, mich nicht. Ich hab vier von deiner Sorte großgezogen.«

      Unter heftigem Palaver kehrten wir zum Haus zurück. Rian erinnerte mich wieder an eine kleine Wildkatze, die jeden Augenblick unversehens fauchen und kratzen und um sich beißen kann, auch wenn er auf alle Fragen und Vorwürfe stumm blieb.

      Ich war erleichtert, als wir die Abschiedszeremonien hinter uns hatten und das große schwarze Taxi um die Hausecke bog. Tante Helen und Sally hatten geweint, Rian hatte sich geweigert, Auf Wiedersehen zu sagen, Onkel Haralds Miene war von Minute zu Minute gereizter geworden, und Mrs Potter stand im Hintergrund und schnüffelte wild.

      Schon den ganzen Morgen lang hatte ich mir den Kopf darüber zerbrochen, wie ich die Kinder ablenken konnte, wenn ihre Eltern fort waren. Wie sollte ich es anstellen, ihnen über den ersten Trennungsschmerz hinwegzuhelfen? Sie wollten weder nach Penbury fahren und Eis essen noch zum Baden ans Meer gehen oder versuchen, mit mir ein Baumhaus zu bauen. Nicht dass ich eine Expertin im Baumhausbau gewesen wäre, dazu hätten wir meinen Bruder Tobe gebraucht. Ich hatte bei solchen Unternehmungen früher immer nur Handlangerdienste geleistet.

      Ich folgte Rian und Sally ins Wohnzimmer, wo Rian den Fernseher anwarf. Zum Glück lief diesmal nur ein alter Mickymaus-Film. Eine Weile sah ich mit zu, wie Dagobert Ducks Geldspeicher zum tausendsten Mal von den Panzerknackern überfallen werden sollte; dann fragte ich: »Habt ihr Lust, mit mir auf die Burg zu gehen?«

      Rian sah mich an. »Penruan?«, sagte er. »Was willst du da oben?«

      »Mir die Burg ansehen, natürlich.« Ich gab mir Mühe, meine Stimme alltäglich klingen zu lassen. »Sie ist sicher sehr interessant, und das Wetter ist gerade richtig, um auf den Felsen zu klettern.«

      »Wir waren schon oben«, sagte Sally.

      »Da oben sind …«

      Sally unterbrach ihren Bruder. »Die alten Geister, klar, ich weiß. Aber nicht tagsüber, du. Da laufen zu viele Touristen herum, besonders jetzt, im Sommer.«

      Ich fragte: »Was für Geister?«

      »Oh, eine Menge«, erwiderte Rian. »Die von Verstorbenen. Solche, die von der Burgmauer ins Meer gesprungen sind. Oder einfach bloß runtergestürzt. Oder die, die umgebracht wurden, als sie Penruan überfallen und kaputtgeschossen haben.« Seine dunklen Augen waren unverwandt auf mich gerichtet. »Du zitterst ja«, fuhr er fort. »Hast du Angst?«

      Ich steckte die Hände in die Hosentaschen und schüttelte den Kopf.

      »Er meint, sie finden keine Ruhe und steigen immer wieder aus dem Meer auf und spuken zwischen den Mauern herum«, erklärte Sally.

      »Und nachts stöhnen und schreien sie«, sagte Rian.

      »Aha«, sagte ich. »Woher weißt du das alles?«

      »Das weiß doch jeder. Die Leute, die hier wohnen, sagen es. Sie wissen es von ihren Eltern und Großeltern und so weiter.«

      Ich dachte an Mrs Potter. Erzählte sie den Kindern solche Schauermärchen?

      »Trotzdem würde ich gern mal auf die Burg gehen«, sagte ich.

      »Dann geh doch«, murmelte Rian.

      »Ich komme mit«, sagte Sally. »Aber nicht abends!«

      »Abends würde ich auch nicht raufgehen«, erwiderte ich wahrheitsgemäß.

      Sally stand auf. »Okay, aber dann müssen wir Jacken mitnehmen. Der Wind ist kalt da oben, weißt du.«

      Ich überlegte. Einerseits hatte ich seit meiner Ankunft, seit dem Augenblick, als ich aus dem Fenster gesehen und die Burg wieder erkannt hatte, keinen größeren Wunsch, als dort oben zu stehen, so als sei zwischen den alten Steinen die Lösung eines Rätsels verborgen. Andererseits scheute ich aber auch davor zurück, als wäre es ein Blick in den Abgrund, als könnte ich dort etwas entdecken, was mir vielleicht den Boden unter den Füßen wegziehen und mein ganzes Leben verändern würde.

      Außerdem durfte ich Rian nicht allein zurücklassen. Ich hatte für ihn und Sally Verantwortung übernommen, hatte versprochen, auf die beiden aufzupassen. Also konnten wir nur zu dritt gehen oder überhaupt nicht.

      »Ohne Rian können wir nicht gehen«, sagte ich. »Wie weit ist es?«

      Sally überlegte. »Sehr weit. Zu

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