Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge. Rainer Maria Rilke

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge - Rainer Maria Rilke страница 44

Автор:
Серия:
Издательство:
Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge - Rainer Maria Rilke

Скачать книгу

aus dem Saale. Ich hörte ihn die ganze Nacht in seinem Zimmer auf und ab gehen; denn auch ich konnte nicht schlafen. Aber plötzlich gegen Morgen erwachte ich doch aus irgend etwas Schlafähnlichem und sah mit einem Entsetzen, das mich bis ins Herz hinein lähmte, etwas Weißes, das an meinem Bette saß. Meine Verzweiflung gab mir schließlich die Kraft, den Kopf unter die Decke zu stecken, und dort begann ich aus Angst und Hilflosigkeit zu weinen. Plötzlich wurde es kühl und hell über meinen weinenden Augen; ich drückte sie, um nichts sehen zu müssen, über den Tränen zu. Aber die Stimme, die nun von ganz nahe auf mich einsprach, klang weich und süßlich, und ich erkannte sie: Es war Fräulein Mathildes Stimme. Ich beruhigte mich sofort und ließ mich trotzdem, auch als ich schon ganz ruhig war, immer noch weiter trösten; ich fühlte zwar, daß diese Güte zu weichlich sei, aber ich genoß sie dennoch und glaubte sie irgendwie verdient zu haben. ›Tante‹, sagte ich schließlich und versuchte in ihrem zerflossenen Gesicht die Züge meiner Mutter zusammenzufassen, ›Tante, wer war die Dame?‹ – ›Ach‹, antwortete das Fräulein Brahe mit einem Seufzer, der mir komisch vorkam, ›eine Unglückliche, mein Kind, eine Unglückliche.‹ Am Morgen dieses Tages bemerkte ich in einem Zimmer einige Bediente, die mit Packen beschäftigt waren. Ich dachte, daß wir reisen würden, ich fand es ganz natürlich, daß wir nun reisten. Vielleicht war das auch meines Vaters Absicht. Ich habe nie erfahren, was ihn bewog, nach jenem Abende noch auf Urnekloster zu bleiben. Aber wir reisten nicht. Wir hielten uns noch acht Wochen oder neun in diesem Hause auf, wir ertrugen die Last seiner Seltsamkeiten, und wir sahen noch dreimal Christine Brahe. Ich wußte damals nichts von ihrer Geschichte. Ich wußte nicht, daß sie vor etwa hundertzwanzig Jahren in ihrem zweiten Kindbett gestorben war, einen Knaben gebärend, der zu einem bangen und grausamen Schicksal heranwuchs, – ich wußte nicht, daß sie eine Gestorbene war. Aber mein Vater wußte es. Hatte er, der leidenschaftlich war und die Klarheit liebte, sich zwingen wollen, in Ruhe und ohne zu fragen dieses Abenteuer auszuhalten? Ich sah, ohne es zu begreifen, wie er mit sich kämpfte, ich erlebte es, ohne zu verstehen, wie er sich endlich bezwang. Das war, als wir Christine Brahe zum letztenmal sahen. Dieses Mal war auch Fräulein Mathilde zu Tische erschienen; aber sie war anders als sonst; wie in den ersten Tagen nach unserer Ankunft sprach sie unaufhörlich, ohne bestimmten Zusammenhang und fortwährend sich verwirrend, und dabei war eine körperliche Unruhe in ihr, die sie nötigte, sich beständig etwas am Haar oder am Kleide zu richten, – bis sie mit einem Mal mit einem spitzen langen Schrei aufsprang und verschwand. In demselben Augenblick öffnete sich (meine Blicke warteten schon auf ihr) die gewisse Türe, und Christine Brahe trat ein. Mein Nachbar, der Major, machte eine heftige rasche Bewegung, die sich in meinen Körper fortpflanzte, aber es war, als hätte er keine Kraft mehr, sich zu erheben. Sein braunes, altes, fleckiges Gesicht wendete sich von einem zum anderen, sein Mund war offen, und die Zunge wand sich hinter den verdorbenen Zähnen; dann auf einmal war dieses Gesicht fort, und sein grauer Kopf lag auf dem Tische, und seine Arme lagen wie in Stücken darüber und darunter, und irgendwo kam eine welke fleckige Hand hervor und bebte. Und nun ging Christine Brahe vorbei, Schritt für Schritt, langsam wie eine Kranke, durch unbeschreibliche Stille, in die nur ein einziger wimmernder Laut hineinklang wie eines alten Hundes. Aber da schob sich links von dem großen silbernen Schwan, der mit Narzissen gefüllt war, die große Maske des Alten hervor mit ihrem grauen Lächeln. Er hob sein Weinglas meinem Vater zu. Und nun sah ich, wie mein Vater, gerade als Christine Brahe hinter seinem Sessel vorüberkam, nach seinem Glase griff und es wie etwas sehr Schweres eine Handbreit über den Tisch hob. Und noch in dieser Nacht reisten wir.«

      (Ursprünglicher Schluß der Aufzeichnungen: Tolstoi)

       (Erste Niederschrift)

      Wenn Gott ist, so ist alles getan, und wir sind triste, überzählige Überlebende, für die es gleichgültig ist, mit welcher Scheinhandlung sie sich hinbringen. Sahen wir’s nicht? Hat nicht jener große Todesfürchtige, da er immer geiziger einging auf einen seienden und gemeinsamen Gott, das gesegnete Erdreich seiner Natur zerstört? Einst, da er sich, ringend mit allem, seine verwandelnde Arbeit entdeckte, wie half er da. Begann er nicht in ihr, unter seliger Mühsal, seinen einzig möglichen Gott, und die es in seinen Büchern erlebten, wurden sie nicht von Ungeduld erfüllt, jeder in sich, auch zu beginnen? Dann aber kam der Versucher vor ihn und stellte ihm vor, daß er ein Geringes täte. Und er, der immer noch eitel war, wollte Wichtiges tun. Der Versucher kam wieder und überzeugte ihn, daß es nicht zu verantworten sei, daß er das Schicksal Eingebildeter und Erfundener beschriebe, während die Wirklichen das ihre nicht bewältigen konnten. Schließlich blieb der Versucher Tage und Nächte in dem Landhaus von Jassnaja und gedieh. Es war sein Entzücken, es mitzumachen, wie der Beirrte immer bestürzter das Herzwerk verließ, das sein eigenes war, um sich verzweifelt an allen Gewerben zu üben, die er nicht konnte. Über diesen dürftigen Handfertigkeiten verengte sich dem Versuchten das Leben zur Absicht. Er begriff nicht mehr, daß man es nicht verstehen durfte; er wollte es wörtlich nehmen wie einen Text. Was nicht gleich deutlich war, das schloß er aus, und bald war alles gestrichen, was kommen konnte, und mehr als die halbe Vergangenheit war verurteilt. Und diese Stunde, da er gebückt saß über seinen Schuh, der von ihm nicht gemacht sein wollte, diese armseligschwere Stunde, war wie die letzte. Wenn dann der Regenpfeifer tönte hinten im feuchten Gehölz, so war nichts mehr vor dem Tod. Er dachte an den Knaben, der dreizehnjährig gestorben war: wozu, mit welchem Recht? Die grausamen Tage in Hyères fielen ihm ein, da sein Bruder Nikolai sich auf einmal veränderte, nachgab und sich pflegen ließ. Er veränderte sich auch: würde er sterben? Und mit einem Entsetzen ohnegleichen ahnte er, daß sein eigener, eingeborener Gott kaum begonnen war; daß er, wenn er jetzt stürbe, nicht lebensfähig sein würde im Jenseits; daß man sich schämen würde für seine rudimentäre Seele und sie in der Ewigkeit verstecken würde wie eine Frühgeburt. Es war alle Angst seines Stolzes, die ihn ergriff, aber vor der Versuchung hätte sie ihn vielleicht angetrieben, seinen heimlichen Gott nur desto dringender weiterzuwirken, soweit er damit kam. Jetzt aber gab er sich keine Zeit, bei jeder innern Bewegung stieß er an die harten Gegengründe in seinem Bewußtsein; in verzweifelter Neugier zwang er sich immer wieder, seine Sterbensnot durchzumachen, und sie kam über ihn, täuschend ähnlich; um so furchtbarer, als er sich nicht zugleich die Geistesgegenwart des Sterbenden zu geben vermochte, die die Kräfte der Qualen an sich reißt und mit ihnen zur Einheit, vielleicht zur Ekstase kommt. Alle gingen gedrückt durch das veränderte Haus, in dem soviel Unrecht geschah. Und die milde unwillkürlich Gerechte, deren stilles Dasein oben in ihrer Stube wie ein Hausschutz gewesen war, lebte nicht mehr. Hatte sie mit der klaren Aussicht der großen Liebenden das Hereinbrechen dieser Todesfurcht vorausgesehen? Einige Jahre vor ihrem Tod, damals als sie in ihrem Zimmer sich plötzlich abwandte und bat, man möchte ihr ein anderes geben, ein schlechteres, damit auf dieses gute hier nicht die Nebenbedeutung ihres Sterbens fiele und es für später verdürbe. Und mit welcher Vorsicht und Reinlichkeit starb sie dann nicht. Ihre wertlosen Dinge waren bescheiden zusammengestellt; es sah aus, als ließe sie sie nur zurück, weil sie nicht denken mochte, daß ihr etwas gehöre. Aus Scheu vor der Wirklichkeit hatte sie nichts vernichtet; alles war da, auch die kleine perlengestickte Tasche, in der der Zettel mit ihrem alten Geheimnis lag; er fand sich, als wäre auch er nicht das erworbene Eigentum ihres Herzens und müßte gewissenhaft zurückgegeben werden an das strenge Ärar Gottes. Ahnte diese starke Verzichtende, die die Musik ihrer Liebe verhielt, um die Herrlichkeit ihres Herzens heimlich und unscheinbar zu vollbringen, daß unter ihr der heranwuchs, dessen tragischer Irrtum es wurde, daß er sein Werk verhielt? Sagte ihm nicht bis zuletzt ihr unbewußt bittender Blick, daß sie nicht ihr Werk unterdrückt hatte, sondern nur seine zeitliche Eitelkeit? War’s nicht in ihrer Stube, wo ihn ein Mal über das andere die Macht der Arbeit überkam, so daß an Widerspruch nicht zu denken war? Wenn er dann aufstand und, ganz warm, hinunterging, um zu schreiben, fühlte er sich nicht im Recht? War er wirklich ein besserer Liebender später, als er damit beschäftigt war, die Liebe aus seinem Werke auszureißen wie ein Dieb? – Da war Tatjana Alexandrowna nicht mehr. Da war er allein; allein mit der namenlosen Angst seiner inneren Gefahr; allein mit dem Vorgefühl seiner unmöglichen Wahl; mit dem Versucher allein: so allein, daß er sich bangsam zu dem fertigen Gott entschloß, der gleich zu haben war, zu dem verabredeten Gott derer, die keinen machen können und doch einen brauchen. Und hier beginnt der lange Kampf eines Schicksals, das wir nicht übersehen. Noch

Скачать книгу