Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge. Rainer Maria Rilke

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Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge - Rainer Maria Rilke

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er sein Kinn auf dem Handrücken mit halber Wendung nach rechts. Christoph hatte gerade geschnupft und knipste mit sorgsamen gotischen Fingern die letzten Anzeichen dieser Beschäftigung von dem fadenscheinigen Rock. Er sah unglaublich gebrechlich aus, und zur Zeit, da Herr Peter noch gewohnt war, sich ab und zu mal zu wundern, hatte er oft gedacht, wie es der dürre Christoph überhaupt zustande gebracht hat, so auszuhalten ohne sich irgendwas abzubrechen ein ganzes Leben lang. Am liebsten stellte er sich den Christoph vor, als dürres Bäumchen, mit dem Halse und den Fußgelenken an eine tüchtige gesunde Stützstange gebunden. Christoph fand sich nun nett genug, rülpste ein wenig, welches entweder ein Zeichen von Zufriedensein oder von schlechter Verdauung war. Dabei zermahlte er ohne Unterlaß etwas zwischen den zahnlosen Kiefern, und seine schmalen Lippen schienen sich aneinander scharf gerieben zu haben. Es war, als mochte sein träger Magen auch die Minuten nicht mehr verdauen, und Christoph mußte nun jede einzelne kauen, so gut das eben ging.

      Herr Peter Nikolas drehte sein Kinn zurück nach gradaus und schaute mit den triefenden Augen ins Grün. Dann störten ihn die Kinder in den Sommerkleidern, die wie lichte Reflexe in einem fort vor den grünen Büschen auf und nieder sprangen. Er senkte ein wenig die Lider. Er schlief nicht. Er hörte das leise Mahlen des mageren Christoph, dem die Bartstoppeln knisterten, und das laute Spucken des Pepi, der dann und wann in seiner schleimigen Sprache fluchte, wenn ein Hund oder ein Kind ihm zu nahe kam. Er vernahm ein Kiesrechen auf fernen Wegen und die Schritte Vorübergehender und die zwölf vollen Schläge der nahen Uhr. Er zählte sie nie mehr, aber er wußte, daß Mittag war, wenn es so oft schlug, daß mans nicht mehr zählen konnte. Zugleich mit dem letzten Schlag schmeichelte ein Stimmchen an seinem Ohr: »Großvater Mittag.«

      Und Herr Peter Nikolas stemmte sich an seinem Krückstock in die Höh und legte dann eine Hand leise auf den Blondkopf des zehnjährigen Mädchens. Die Kleine holte sich die Hand jedesmal aus den Haaren wie ein welkes Blatt und küßte sie. Dann nickte der Großvater einmal nach links, einmal nach rechts. Und rechts und links von ihm nickte es mechanisch nach. Und der Pepi und Christoph aus dem Armenhaus schauten jedesmal zu, wie Herr Peter Nikolas mit dem kleinen blonden Mädchen hinter den nächsten Büschen verschwand.

      Bisweilen kam es dann vor, daß auf dem Platze des Herrn Peter Nikolas ein paar arme, hilflose Blumen liegen geblieben waren, die das Kind vergessen hatte. Dann streckte der dünne Christoph seine gotischen Finger zaghaft langend nach ihnen aus, und später trug er sie auf dem Heimwege wie etwas ganz Seltenes und Wertvolles in der Hand. Der rote Pepi spuckte dann verächtlich, und der andere schämte sich vor ihm.

      Im Armenhaus aber ging der Pepi voran und stellte wie ganz zufällig ein Glas mit Wasser auf das Fenster ihrer Stube. Dann saß er still in der dunkelsten Ecke und wartete, bis der Christoph die paar armseligen Blumen in das Glas auf dem Fenster gesteckt hatte.

       Kismét: Skizze aus dem Zigeunerleben (1897)

       Inhaltsverzeichnis

      Der starke Kral saß breit und schwer am Rain des furchigen Feldweges. Tjana hockte neben ihm. Sie hatte ihr Kindergesicht in die braunen Hände gepreßt und verharrte so mit großen Augen, lauschend und lauernd. Sie schauten in den Herbstabend. Vor ihnen in der blassen, kranken Wiese stand der grüne Wanderwagen, und bunte Windeln wehten sachte über seiner Tür. Aus dem engen Eisenschlot wirbelte ein leichter, blauer Rauch, der zitternd in der satten Luft zerfloß. Dahinter in den Hängen, die in langen flachen Wellen näher zu fluten schienen, watete der matte Zuggaul und riß hastig das spärliche Spätgras. Manchesmal blieb er stehen, hob den Kopf und schaute mit den guten geduldigen Augen in denselben Abend, drin kleine Dorffenster aufflammten und grüßten.

      »Du«, sagte Král mit wildem Entschluß, »er ist deinetwegen da.«

      Tjana schwieg.

      »Was sucht der Prokopp sonst hier?« fügte der Král mürrisch hinzu.

      Tjana zuckte die Achseln, riß mit raschem Griff ein langes, silbernes Gras ab und hielt es spielend zwischen den blitzend weißen Zähnen. Dann blieb sie still, als zählte sie die Lichter im Dorf.

      Dann begann drüben das Ave.

      Die kleine gelle Glocke eilte sich übermüde zu Ende. Sie brach unvermittelt ab. Wie eine Klage blieb in der Luft. Die junge Zigeunerin warf die schlanken Arme zurück und lehnte sich an den Hang. Sie schloß die Augen. Sie hörte das zage Zirpen der Grillen und die matte Stimme der Schwester, die ein Schlummerlied sang in dem grünen Wagen.

      Beide lauschten eine Weile. Dann begann das Kind im Wagen zu weinen, leise, in langen, hoffnungslosen Tönen. Tjana wandte den Kopf zu dem Zigeuner und sagte spöttisch: »Gehst nicht, deinem Weib helfen, Král! ‘s Kind schreit.« Der Král packte ihre Hand.

      »Der Prokopp ist deinetwegen da«, wütete er als einzige Antwort.

      Trotzig nickte das Mädchen: »Ich weiß.«

      Da faßte der starke Král auch ihre andere Hand und preßte sie an den Hang. Wie gekreuzigt war Tjana. Sie biß sich die Lippen wund, um nicht zu schreien. Drohend hatte er sich über sie geneigt. Tjana sah nichts mehr vom Abend. Sie sah nur ihn mit seinen breiten schweren Schultern. Er war so groß über ihr, daß er den Wagen und das Dorf und den blassen Himmel verdeckte. Sie schloß eine Sekunde die Augen und fühlte: »Král heißt König zu deutsch. Und er ist einer.«

      Allein im nächsten Augenblick empfand sie den heißen Schmerz an den Handgelenken wie eine Schmach. Sie fuhr auf, riß sich mit jähem Ruck los und stand vor Král mit wilden, sprühenden Augen.

      »Was willst du?« stöhnte er.

      Tjana lächelte leise: »Tanzen.«

      Und sie hob die schlanken, kindlich zarten Arme und ließ sie leise und langsam auf und nieder wehen, als sollten die braunen Hände Flügel werden. Sie lehnte den Kopf zurück, weit, daß die schwarzen Haare schwer hinabglitten, und schenkte ihr fremdes Lächeln dem ersten Stern. Ihre leichtgelenken bloßen Füße suchten tastend einen Rhythmus, und ein Wiegen und Schmiegen war in ihrem jungen Leib, bewußtes Genießen und willenloses Hingeben zugleich, wie es den langstieligen feinen Blumen zu eigen ist, wenn der Abend sie küßt.

      Mit zitternden Knieen stand der Král vor ihr. Er sah die blasse Bronze ihrer freien Schultern. Dunkel empfand er: Tjana tanzte die Liebe.

      Ein jeder Hauch, der über die Wiesen kam, schmiegte sich ihrer Bewegung in leichter, schmeichelnder Liebkosung an, und alle Blumen träumten in ihrem ersten Traum davon, sich so zu wiegen und so zu grüßen. Tjana schwebte näher und näher an den Král heran und neigte sich so fremd und seltsam, daß seine Arme gelähmt blieben vor lauter Schauen. Wie ein Sklave stand er und hörte auf das Jagen seines Herzens. Tjana wehte an ihn heran, und die Glut ihrer nahen Bewegung schlug wie eine Welle über ihn. Dann glitt sie weit, weit zurück, lächelte stolz und sieghaft und fühlte: »Er ist doch kein König.«

      Der Zigeuner erwachte langsam und verfolgte sie wie ein Traumbild, tastend und heimlich. Plötzlich hielt er inne. Es fügte sich etwas ein in Tjanas schwebendes Wiegen. Ein leises, flutendes Lied, das längst in der Bewegung zu schlummern schien und das jetzt aus ihren Takten immer reicher und voller aufblühte. Die Tanzende zögerte. Alle ihre Bewegungen wurden langsamer, leiser, gleichsam lauschender. Sie blickte Kral an, und die beiden empfanden das Lied wie etwas Schweres, Lähmendes. Sie wandten unwillkürlich die Augen nach derselben Richtung und erkannten: Den Weg daher kam Prokopp. Als Silhouette hob sich sein knabenhafter Körper von der silbergrauen Dämmerung ab. Er ging wie unbewußt mit träumenden

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