Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge. Rainer Maria Rilke
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Читать онлайн книгу Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge - Rainer Maria Rilke страница 79
Wie ein Türengehen war es gewesen, was den Gelähmten aus seinen Träumen schreckte. Er fuhr auf und durchforschte mit verstörten, fernhergerufenen Blicken die Stube, in deren tiefsten Ecken schon die Dämmerung Netze spann. Er war allein. Aber als er seine Arbeit wieder aufnahm, wußte er: Es saß jemand neben ihm, der mitschnitzte. Wie schützend neigte er sich über die Figur. Aber der neben ihm langte doch herzu und riß mit zuckenden Griffen an den überfeinen, leidenden Linien und machte, daß sie etwas Festes, Irdisches bekamen: etwas von Anne-Marie. Werner fror vor Entsetzen. Er fühlte, daß es jetzt den letzten Kampf galt. Sein Werkzeug blinkte in rasender, verfolgter Eile auf und nieder und fuhr wie ein Blitz in die gebahnten Rillen, aus denen die Späne spritzten. Er wollte dem anderen zuvorkommen. Der aber tat in unerbittlicher, brutaler Ruhe Schnitt um Schnitt und zerstörte höhnisch jeden Zug des Atemlosen. Zuletzt schien es dem Kranken, als stünde seine haltlose Hast, ganz besiegt, im Dienste des Feindes. Da ergriff ihn der Zorn der Hilflosigkeit. Seine bebende Rechte fiel das Holz in immer wilderen und zielloseren Hieben an. Seine Augen folgten ihr nicht mehr. Er starrte hinaus, dem Abend ins rote Gesicht, und brüllte: »Du oder ich.« Dabei schaffte seine Rechte, gleichsam losgelöst von ihm, immer fort, und das scharfe Messer formte nicht mehr das harte Holz. Er schnitzte an seinen eigenen, blutenden Händen.
Einig (1897)
Frau Sophie goß ihrem Sohne Tee ein. Ihre schlanke, vornehme Hand zitterte leise. Der Kranke saß ihr gegenüber in dem Gobelinsessel und schwieg. Nur seine weißen Hände auf den dunklen Armlehnen lebten ihr eigenes, fieberndes Leben. Frau Sophie stellte die Silberkanne, die das ganze Licht des dämmerigen Zimmers zu sammeln schien, auf den Tisch und strich sich über die weißen Scheitel. Dann setzte sie sich in den tiefen Lehnstuhl, und ihr Seidenkleid knisterte dabei. Sie sah mit einem zärtlichen Lächeln hinüber zu ihrem Sohn. Und sie bemerkte jetzt nicht die bleichen Wangen des herzkranken jungen Mannes und nicht das leise Beben seiner Nasenflügel, das wie das Schwingenschlagen eines Falters war vor dem Sterben; sie fühlte nur, daß er nun nach vielen Jahren wieder zu Hause war und daß sie die Hände voll unverbrauchter Liebe auf seine Stirn legen und mit ängstlichen Augen die Wünsche lösen durfte aus seinen Blicken. Daß er um seiner schweren Krankheit willen zu ihr zurückgekehrt war, hatte sie ganz vergessen. Sie dankte Gott dafür, ihn beschützen zu dürfen, und war froh, ihn seitab zu wissen vom großen, wilden Wege der Stürme und Ströme und irgendwo ihn zu hüten, wo er ganz willenlos, ganz Besitz ihrer Liebe war. Dieses Bewußtsein lag wie ein stilles, verklärtes Leuchten auf ihrem Gesicht. Gerhards große und verdunkelte Augen schienen ins Uferlose gerichtet, aber sie belauerten doch die verträumte Seligkeit in ihren Zügen. Und seine kranke, bange Seele sann diesem Lächeln nach und erriet seine Tiefen. Der junge Mann dachte: So ist die Mutter. Sie dankt Gott, daß ich zurückgekommen bin, und ich bin doch zurückgekommen, um zu sterben. Sie dankt Gott, daß mich keine Gefahr mehr findet, und das Leben ist eine einzige Gefahr. Sie dankt Gott für mich und mein Leben, und ich bin eine frühwelke, wurmfaule Frucht, So ist die Mutter. Die Teetassen sangen ein silbernes Lied, und Frau Sophie sagte mitten aus ihren Träumen: »Es ist noch alles so wie damals bei uns nicht wahr? Kein Stuhl verrückt. Auch die Bilder hängen noch so, wie du es bestimmt hast. Über deinem Bett ›Der Geiger‹ von Hans Thoma. Du hast ihn ja so geliebt als Knabe. Liebst du ihn noch?« Der Kranke nickte kaum.
»Was spielt er wohl? Glaubst du. Ich glaube, er spielt dein Heimatlied.«
Der junge Mann atmete hastig: »Meine Kindheit spielt er, Trauer spielt er und Entsagung.«
Er hatte heiser gesprochen. Wieder sangen die Tassen.
Erschrocken fragte Frau Sophie: »Hast du deine Kindheit nicht lieb, Gerhard?« Der Kranke sah sie sehr ernst an: »Lieb? Ob ja. Ich liebe sie, wie man eine Lüge liebt, durch die man glücklich wird, oder einen Traum, in dem man König war, oder eine Güte, die einen zum Sklaven macht. Ich liebe diese Stuben, in denen sie gewohnt hat, und deine Stimme, die ihre Sehnsucht war. Ich liebe alle Wege, welche du mich geführt hast, diese leisen, lautlosen Wege ums Leben herum zu deinem Gott.«
Frau Sophie machte eine Bewegung, so daß der Löffel scharf auf die Untertasse fiel.
Dann sagte sie kalt: »Ich habe dich in Frömmigkeit erzogen.«
Gerhard lächelte ein wenig: »Was ist Frömmigkeit? Freude an dunkeln Kirchen und lichten Christbäumen, Dankbarkeit für den stillen, von keinem Sturme gestörten Alltag, Liebe, die den Weg verloren hat und sucht und tastet im Uferlosen. Und eine Sehnsucht, welche die Hände faltet, statt die Flügel auszuspannen.«
Der Kranke lehnte den Kopf weit zurück in das dunkle Kissen, so daß man das Kinn sah mit den spärlichen blassen Barthaaren und den mageren Hals mit den straffen Sehnen. Frau Sophie nestelte mit ihren feinen Fingern hastig an ihrem schwarzen Spitzenkragen, und in ihrer Stimme war lauter Zärtlichkeit:
»Machst du mir Vorwürfe, Gerhard?«
Der junge Mann regte sich nicht, nur seine Hände wiegten sich leise. »Nein, Mutter.«
»Du sprichst so …« fragte die alte Dame ängstlich.
Gerhard senkte langsam den Kopf, und sie schauten sich in die Augen.
»Danken müßt ich dir eigentlich dafür. Du hast mich tief in lauter Wunder geführt, immer weiter und immer weiter. So weit hast du mich in deinen Glauben geführt, daß ich die ganzen zehn Jahre, da ich von dir fern war, gebraucht habe, um herauszufinden.«
Frau Sophie lehnte sich vor in ihrem Sitze, wie um kein Wort zu verlieren.
Der Kranke sprach fort in unsäglich mildem Ton. Ein jedes Wort schien für sich um Verzeihung zu bitten: »Mutter, du mußt es wissen, diese zehn Jahre waren ein trostloser Rückweg für mich. Ich bin so müde dabei geworden. Aber ich müßte dir dennoch danken dafür, wenn ich nicht so krank wäre. Ich stehe jetzt ganz am Anfang und muß sterben. Ich bin, als ob ich nie gelebt hätte, denn ich habe nie ins Leben gefunden. Fünfzehn Jahre irregeführt sein und zehn Jahre sich zurückkämpfen zum Anfange: Das bin ich.«
»Gerhard!« flehte Frau Sophie, und ihre Hände zitterten und falteten sich vor lauter Hilflosigkeit, »du versündigst dich.« Der Sohn aber sagte aus tiefen Gedanken: »Am Anfang sein und sterben müssen, das ist doch traurig.« Seine Augen waren so voll Wehmut, daß die Dame die Hände vor das Gesicht preßte