Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge. Rainer Maria Rilke
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Anne-Marie hatte Schelmerei in den Augen, sie lachte: »Zu meiner Hochzeit.«
»Warum zur Hochzeit?« Werners Stimme war fremd und rauh, wie nach einem Schrecken.
Anne-Marie sagte ernst: »Weil das ein Fest ist.« Und ihr war auf einmal sehr bange.
Die Zeit war da, in welcher Anne-Marie eine Madonna brauchte. Werner schleppte sich auf seinen Krücken jeden Morgen in die Bodenkammer, um das geeignete Holz für die neue Arbeit zu wählen. Keines paßte, und er blieb dann immer, erschöpft vom Aufstieg und vom Suchen, in einem Winkel der kühlen Kammer sitzen und musterte langsam die zu vielen Marien, die so traurig waren, weil sie nie ein Kind beten gesehen hatten und weil vor keiner ein Licht brannte am Sonnabend. Er dachte dabei gar nicht an die müßigen, verstaubten Heiligen, sondern überlegte, daß Anne-Marie nun heiraten werde, und daß er ihr die eine Madonna schenken müsse zu ihrer Hochzeit.
Er hatte Anne-Marie lange nicht gesehen. Es war, als fürchte sie sich vor ihm seit jenem Abend. Sie schickte nun dann und wann die kleine Klara, ihr zehnjähriges Schwesterchen. Der Kranke gewann das Kind sehr lieb und nannte es Maus, weil es behend und naschhaft und niedlich war. Maus dagegen empfand eine gewisse sorgende Überlegenheit und gestand Werner einmal vertraulich, daß er ihr Kind und ganz dumm und ungeschickt sei. Die Kleine kam jeden Tag und brachte ihm eine Blume, einen Apfel oder einfach ihren frischen, kühlen Kindermund, der ihm das Liebste war.
Nach langer Wahl hatte Werner ein gefüges Holz gefunden und eine von den Madonnen, welche ihm als Vorbild nützlich schien, vor sich hingestellt. Das war eine von den großen, prächtigen, und Maus freute sich mit glänzenden Augen und offenem Mund an ihrer bunten Herrlichkeit.
Plötzlich sagte das Kind: »Weißt du, das ist eigentlich gar nicht die heilige Maria.« Werner, dem die Arbeit nicht von statten wollte, blickte fragend auf. Maus schwieg verlegen und preßte die kleine Grübchenhand fest vor den Mund.
»Warum?« fragte Werner.
»Weil … ich kanns nicht sagen«, unterbrach sich die Kleine. Dabei sah sie ganz tückisch aus.
»Also, du Gernklug«, schmeichelte der Kranke müde, »wer ist es denn?«
Maus schmiegte sich an ihn.
»Die heilige Agathe?« forschte der junge Mann und liebkoste ihr das Haar.
»Oh nein.«
»Die heilige Anna?«
Unwillig schüttelte Maus den Kopf.
Werner nannte alle heiligen Frauen, die ihm gerade einfielen. Das Kind verneinte immer entschiedener und sagte endlich schmollend und voll Ungeduld: »Du Dummer, überhaupt keine Heilige. Ein Mensch.«
Werner lächelte.
»Rat einmal.«
»Oh, du kannst nicht raten«, fügte Maus gleich kläglich und ein wenig verächtlich hinzu, als sie in des Freundes ratloses Gesicht schaute.
Sie setzte sich zurecht und sagte: »Die Anne-Marie.« Der Kranke wurde sehr blaß. Seine weißen Hände zitterten leise. Er sank im Stuhl zurück und schien das Bild Anne-Mariens, wie es in ihm wuchs, neben der großen, prächtigen Madonna zu sehen und hastigen Blicks zu vergleichen. Das Kind sah zuerst sehr enttäuscht und erstaunt aus, als Werner ernst und still verharrte, und erschrak heftig, als er jetzt aufsprang, nach den Krücken langte und mit einer fremden Stimme befahl: »Komm.«
Da hatte die Kleine sehr große Furcht. Sie wollte immer wieder fragen: »Was hast du?« Aber das ängstliche Herz pochte ihr in der Kehle und ließ dem Worte keinen Raum. So kroch sie mit schwachen Knieen hinter den dröhnenden Krücken des Kranken her in die Bodenkammer. Dort zerrte Werner sie, ehe ihre Augen durch das Dunkel fanden, am Arm und sagte hart: »Nicht wahr, das ist auch Anne-Marie?«
Maus konnte nichts erkennen. Sein Griff schmerzte sie; sie nahm alle Kraft zusammen und sagte, dem Weinen nahe: »Ja.«
»Und das?« hörte sie den Kranken. Jetzt glaubte sie mit weiten Augen etwas zu erkennen, was der Holzmadonna unten ganz ähnlich war: »Auch.«
Sie fühlte sich fortgezerrt. Wie beschwörend klang Werners atemloses Fragen: »Und die hier?«
»Ja, auch«, gab Maus eilig zu. Allmählich erkannte sie im Dunkel lauter schöne, große Anne-Marien. Da verging ihr ein wenig die Angst. Sie sagte in Bewunderung: »Ah«, und dann, wie um nicht am Schauen gestört zu sein durch lauter Fragen: »Alle, Alle.«
Da ließ Werner ihren Arm frei. Er wankte in die Ecke und fiel erschöpft in den Stuhl. Seine beiden Krücken polterten zu Boden. Maus schielte scheu und ungern zu ihm hin. Er sah sehr traurig aus. Die Kleine kehrte den Blick rasch wieder zu den vielen Puppen und ging, einen Finger im Mund, auf leisen Zehen von einer hölzernen Anne-Marie zu der andern.
Werner hielt seine Tür verschlossen. Nur seiner alten Aufwärterin öffnete er, wenn sie ihm das Essen brachte. Aber am Abend konnte sie das Mahl, fast unberührt, wieder fortnehmen. Bei der späten Kerze schnitzte der Kranke unermüdlich. Seine Hände fieberten, und vor Anstrengung waren die Finger fühllos. Tief in der Nacht brannte sein Licht zischend und zuckend in sich nieder und verlosch. Die Dunkelheit fiel schwer auf seine müden Augen, aber die krampfige Hand ließ nicht von dem Messer. Sie tat noch ein paar blinde, rasche Schnitte in das Holz. Gewaltsam wie Hiebe saßen sie. Dem Manne geschah, so müsse die heilige Jungfrau, die seine Sehnsucht war, ihm in dichter Dunkelheit das Werkzeug leiten und seiner gehorsamen Hand die Macht schenken, jene Züge zu bilden, die er sich nicht vorstellen konnte, die aber der Inbegriff alles Hohen und Heiligen sein mußten.
Er ließ die Arbeit nicht los und wachte mit wehen Augen dem ersten Tag entgegen. In das zögernde Licht hob er das Holzbild. Und was ihm entgegensah, war immer wieder diese: Anne-Marie, die in den nächsten Tagen Hochzeit halten sollte. Im nächsten Augenblick, da er dies erkannte, schlug er die Figur gegen das Fensterbrett, so hart, daß ihr Kopf losschnellte und in weitem Bogen in die zwielichtvolle Stube flog. Werner ließ den Holzklotz fallen und grub seine Finger ins Haar, so daß er seine Nägel wie kalte, eiserne Schrauben eindringen fühlte.
Drüben hob sich die frühe Sommersonne. Das Grau schmolz von den Dächern, und in dem nahen Garten jubelte der Morgen mit hundert Vogelrufen. Übernächtig starrte Werner in die Purpurpracht. Er konnte nicht knieen mit seinen toten Füßen; aber seine verzweifelte Seele lag auf den Knieen in fieberndem Flehen, als er hoch die Hände zusammenschloß und betete:
»Heilige Jungfrau, du bist doch, und du bist gewiß nicht so wie die Anne-Marie. Du kannst nicht sein wie eine, die Hochzeit hält in diesen Tagen. Dich will ich verherrlichen. Seit Gott mir die Gnade genommen hat, meine Füße zu brauchen, mache ich dein Bild. Hörst du dich! Mit meinen armen, hilflosen Händen mach ich dir meine hölzernen Gebete. Hast du nie Freude daran? Heilige Jungfrau, es sind schlechte Bilder von dir, und deine Güte hat nicht Raum in ihnen. Aber gieb mir, daß ich nur eines mache, das dir ähnlich ist; wenn auch nur so ähnlich wie der kleine Kohlenfunken der Sonne. Ich bin dir dankbar. Nur laß es Licht sein von deinem Lichte, Liebe von deiner Liebe. Nur laß es nicht sein wie jene, denn du kannst nicht sein wie die Anne-Marie, die Hochzeit hält in diesen Tagen.«
Seine Stimme war farblos, und seine Hände glitten in satter Erschöpfung in seinen Schooß. Mit geschlossenen Augen lauschte er dem Gebete nach. Er ruhte, wie Kinder ruhen