Maigret und der einsame Mann. Georges Simenon

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Maigret und der einsame Mann - Georges  Simenon Georges Simenon

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hatte der Mann vermutlich auf der Straße oder irgendeinem verwilderten Grundstück gefunden.

      »Haben Sie ihn identifiziert?«

      »Nein.«

      Sie blickten besorgt zu Boden, denn nun, da sich so viele Menschen im Raum befanden, begannen sich die Dielen bedenklich zu biegen, als drohten sie jeden Moment einzubrechen.

      »Womöglich finden wir uns gleich eine Etage tiefer wieder …«, bemerkte der junge Arzt.

      Er wartete, bis die Fotos gemacht waren, ehe er an die Leiche herantrat und sie untersuchte. Er entblößte die Brust, und man konnte die schwarzen Löcher sehen, die die Kugeln hinterlassen hatten.

      »Der Mörder hat drei Mal aus höchstens einem Meter Entfernung geschossen und präzise gezielt. Wahrscheinlich schlief das Opfer. Sonst lägen die Einschusslöcher nicht so dicht nebeneinander.«

      »Ist der Tod sofort eingetreten?«

      »Ja. Der Täter hat die linke Herzkammer getroffen.«

      »Sind die Kugeln aus dem Körper ausgetreten?«

      »Das sage ich Ihnen, wenn ich die Leiche umgedreht habe.«

      Der Fotograf half ihm. Nur eine Kugel hatte den Körper des seltsamen Clochards durchschlagen. Wahrscheinlich steckte sie in dem Strohsack.

      »Gibt es hier Wasser?«

      »Nein. Es wurde abgedreht.«

      »Ich frage mich, wo er sich so gründlich gewaschen hat. Sein Körper ist sehr sauber.«

      »Können Sie sagen, wann der Tod ungefähr eingetreten ist?«

      »Zwischen neunzehn Uhr und drei Uhr morgens. Ich werde es Ihnen genauer sagen können, sobald ich die Obduktion vorgenommen habe. Wurde er bereits identifiziert?«

      »Noch nicht. Wir werden sein Foto an die Zeitungen weiterleiten. Apropos, wann sind die ersten Abzüge fertig?«

      »In einer Stunde. Genügt das?«

      Der Fotograf verließ den Raum, während die Männer vom Erkennungsdienst jeden Gegenstand nach weiteren Fingerabdrücken absuchten.

      »Ich nehme an, Sie brauchen uns nicht mehr«, murmelte der Vertreter der Staatsanwaltschaft.

      »Mich wohl auch nicht«, fügte Richter Cassure hinzu.

      In Gedanken versunken zog Maigret an seiner Pfeife. Es dauerte eine Weile, bis er sich bewusst wurde, dass die Frage ihm galt.

      »Nein. Ich werde Sie auf dem Laufenden halten.«

      Dann wandte er sich an den Gerichtsmediziner.

      »War er betrunken?«

      »Das würde mich sehr wundern. Aber der Mageninhalt wird uns darüber Auskunft geben. Auf den ersten Blick würde ich nicht vermuten, dass der Mann ein Trinker war.«

      »Ein Clochard, der nicht trinkt«, murmelte der Polizeikommissar, »das kommt nur ganz selten vor.«

      »Und wenn er vielleicht gar kein Clochard war?«, sagte Torrence.

      Maigret schwieg. Es war, als versuchte sein Blick, jeden noch so belanglosen Gegenstand, jedes noch so geringe Detail im Raum abzuspeichern. Es war noch keine Viertelstunde vergangen, seit der Erkennungsdienst seine Arbeit aufgenommen hatte, als der Lieferwagen des Gerichtsmedizinischen Instituts in der Sackgasse hielt. Nicolier lief hinunter, um den beiden Männern mit der Bahre den Weg zu zeigen.

      »Sie können ihn mitnehmen …«

      Man sah ihn noch einmal von vorn mit seinen vornehmen Gesichtszügen und dem sorgfältig gestutzten Kinnbart.

      »Wie schwer der Kerl doch ist!«, sagte einer der beiden Träger.

      Sie hatten alle Mühe, mit ihrer schweren Last die beschädigte Treppe hinunterzusteigen.

      Maigret rief nach Nicolier.

      »Sag mal, junger Mann, gibt es in diesem Viertel eine Schule für angehende Friseure?«

      »Ja, Monsieur Maigret. In der Rue Saint-Denis, drei Häuser neben unserer Metzgerei.«

      Vor mehr als zehn Jahren war Maigret einmal während einer Fahndung in eine dieser Friseurschulen gerufen worden. In Paris gab es wahrscheinlich elegantere Lehrstätten. Aber im Quartier des Halles konnte man kaum etwas Erstklassiges erwarten.

      Bestimmt warb die Schule in der Rue Saint-Denis Clochards und Bettler an, die die ungelenken Versuche der Lehrlinge über sich ergehen ließen.

      Dort wurden junge Friseure und Friseurinnen sowie angehende Maniküren ausgebildet.

      Aber bevor er die Schule aufsuchte, brauchte Maigret die Fotos. Im Augenblick blieb ihm nichts anderes übrig, als auf die Auswertung der Fingerabdrücke zu warten.

      Er ließ Moers und seine beiden Männer in dem Raum arbeiten und ging mit Torrence und Ascan die Treppe hinunter. Sie waren erleichtert, wieder im Freien, an der verhältnismäßig frischen Luft zu sein.

      »Was glauben Sie, warum hat man ihn umgebracht?«

      »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«

      Durch einen Torbogen gelangten sie in einen Hof voller alter Kisten und ausgedientem Hausrat. Dort fand Maigret allerdings auch die Antwort auf die zuvor gestellte Frage des Doktors. An einer Mauer war eine Pumpe angebracht, und auf dem Pflasterstein darunter stand ein halbwegs unversehrter Eimer. Er bewegte den Schwengel. Zunächst tat sich nichts, doch schließlich begann das Wasser zu fließen.

      Hier wird sich der Unbekannte gewaschen haben.

      Der Kommissar sah ihn in Gedanken vor sich, wie er sich mit nacktem Oberkörper wusch.

      Er verabschiedete sich von Kommissar Ascan, marschierte in Richtung Rue de la Grande-Truanderie und dann weiter zu den Markthallen. Es wurde immer heißer, und da er telefonieren musste, nutzte er die Gelegenheit, sich in einem halbwegs ordentlichen Bistro ein Bier zu bestellen. Torrence, der ihn begleitet hatte, tat es ihm nach.

      »Geben Sie mir den Erkennungsdienst.«

      Dann verlangte er Inspektor Lebel, der sich um die Fingerabdrücke gekümmert hatte.

      »Hallo! Lebel? Waren Sie schon im Archiv?«

      »Da komme ich gerade her. Man hat dort keinen Fingerabdruck gefunden, der mit dem des Mannes übereinstimmt …«

      Auch das war ungewöhnlich. Die meisten Clochards hatten irgendwann Scherereien mit der Polizei.

      »Danke. Wissen Sie, ob die Fotos schon fertig sind?«

      »In zehn Minuten … Stimmt doch, Mestral, oder?«

      »Sagen wir in einer Viertelstunde.«

      Zur Kriminalpolizei war es nicht weit. Die beiden Männer brauchten nur wenige Minuten, um den Quai des Orfèvres zu erreichen.

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