Maigret und der einsame Mann. Georges Simenon
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Maigret nahm sich drei Abzüge von jeder Aufnahme, ging mit den Fotos in sein Büro hinunter und beauftragte Inspektor Lourtie, sie an die Zeitungen, vor allem an die Nachmittagsblätter, weiterzugeben.
»Kommen Sie, Torrence. Uns bleibt noch eine Stunde bis zum Mittagessen. Wir hören uns ein wenig um.«
Maigret gab Torrence einen Satz Fotos.
»Die zeigen Sie den Ladenbesitzern und den Wirten in den kleinen Bars rings um die Markthallen. Wir treffen uns dann beim Auto wieder …«
Er selbst ging in Richtung Rue Saint-Denis, einer schmalen Straße, auf der auch im August reges Treiben herrschte, denn die kleinen Leute dieses Viertels traf man nicht gerade häufig am Strand an.
Der Kommissar folgte den Hausnummern. Die, die man ihm genannt hatte, war an einem Gebäude angebracht, in der sich eine kleine Samenhandlung befand. Links neben dem Schaufenster führte ein schmaler Durchgang in einen Hof. Auf halbem Weg gelangte man an eine Treppe, neben der an der einstmals grün getünchten Hauswand, die inzwischen einen undefinierbaren Farbton angenommen hatte, zwei Emailleschilder befestigt waren. Auf dem einen stand:
Joseph
Berufsschule für Friseure und Maniküren
Und neben einem Pfeil, der auf die Treppe deutete: Hochparterre.
Und auf dem Schild gleich darüber las man:
Witwe Cordier
Kunstblumen
Der Pfeil neben diesem Schild verwies ebenfalls auf die Treppe: Zweiter Stock.
Maigret wischte sich den Schweiß von der Stirn, stieg ins Hochparterre, stieß eine Tür auf und betrat einen weitläufigen Raum. Die zwei kleinen Fenster ließen kaum Licht ein. Für die spärliche Beleuchtung sorgten die matten Glaskugellampen, die von der Decke herabhingen.
Dort standen zwei Reihen Lehnstühle, die eine offensichtlich für Männer, die andere für Frauen. Die angehenden Friseure und Friseurinnen arbeiteten emsig unter der Anleitung von älteren Herren. Die Aufsicht übernahm eine kleine, dürre, beinahe glatzköpfige Gestalt mit einem tintenschwarz gefärbten Schnurrbart.
»Ich nehme an, Sie sind der Chef?«
»Ja. Ich bin Monsieur Joseph.«
Er hätte sechzig, aber auch fünfundsiebzig sein können. Maigret ließ seinen Blick über die Männer und Frauen schweifen, die in den vermutlich gebraucht erstandenen Lehnstühlen saßen. Man hätte glauben können, man befände sich bei der Heilsarmee oder unter den Brücken, denn sie alle waren Clochards, an denen die Lehrlinge mit Kamm, Schere und Rasiermesser herumprobierten. Es war ein eindrückliches Bild, das sich da bot, vor allem in dem spärlichen Licht. Weil es so heiß war, standen die beiden kleinen Fenster offen, und man hörte den Straßenlärm heraufdringen, was die Atmosphäre im Saal noch unwirklicher erscheinen ließ.
Um Monsieur Joseph nicht weiter auf die Folter zu spannen, zog Maigret die Fotos aus seiner Tasche und reichte sie dem kleinen Mann.
»Was soll ich damit?«
»Sie ansehen … Und mir dann sagen, ob Sie ihn wiedererkennen.«
»Was hat er angestellt? Sie sind von der Polizei, nicht wahr?«
Er wurde merklich misstrauisch.
»Kommissar Maigret von der Kriminalpolizei.«
Monsieur Joseph blieb unbeeindruckt.
»Suchen Sie ihn?«
»Nein. Wir haben ihn leider schon gefunden. Mit drei Kugeln in der Brust.«
»Wo ist das passiert?«
»Zu Hause … Wenn man das so nennen kann. Wissen Sie, wo er wohnte?«
»Nein.«
»Er hauste in einem abbruchreifen Haus. Ein herumstreunender Junge hat ihn dort entdeckt und die Polizei verständigt. Erkennen Sie ihn?«
»Ja … Wir nannten ihn hier nur Aristo, weil er sich immer so aristokratisch gegeben hat.«
»Kam er häufig hierher?«
»Das war ganz unterschiedlich. Manchmal tauchte er einen ganzen Monat nicht auf, und dann kam er zwei- oder dreimal in der Woche.«
»Kennen Sie seinen Namen?«
»Nein.«
»Auch nicht den Vornamen?«
»Nein.«
»Er war wohl nicht sehr gesprächig?«
»Er hat überhaupt nicht geredet. Er setzte sich in den erstbesten Lehnstuhl, ließ seine Lider sinken und alles mit sich machen. Ich selbst habe ihn gebeten, sich Schnurr- und Kinnbart wachsen zu lassen. Das wird wieder modern, und die jungen Friseure müssen lernen, wie man so einen Bart ordentlich stutzt. Das ist schwieriger, als man annimmt.«
»Wie lange ist das her?«
»Drei oder vier Monate.«
»Vorher hatte er keinen Bart?«
»Nein. Er hatte so schönes Haar. Man konnte alles Mögliche damit anstellen.«
»Kam er schon länger zu Ihnen?«
»Seit drei oder vier Jahren.«
»Ich sehe hier vor allem Clochards.«
»Ja. Sie wissen, dass ich jedem nach einem Vormittag oder Nachmittag ein Fünf-Franc-Stück zustecke.«
»Ihm auch?«
»Natürlich.«
»War er mit einigen Ihrer Stammkunden bekannt?«
»Mir ist nicht aufgefallen, dass er sich jemals mit irgendwem unterhalten hat. Und wenn man ihn ansprach, tat er so, als hätte er es nicht gehört.«
Es war fast zwölf. Die Scheren klapperten immer schneller. In einigen Minuten würden alle hinausrennen, wie in der Schule.
»Wohnen Sie hier im Viertel?«
»Ich wohne mit meiner Frau im ersten Stock, genau eine Etage höher.«
»Sind Sie ihm manchmal auf der Straße begegnet?«
»Ich glaube nicht. Und wenn doch, kann ich mich nicht daran erinnern. Würden Sie mich jetzt entschuldigen? Es ist Zeit.«
Er drückte auf einen Klingelknopf hinter einer Art Tresen, vor dem sich sofort eine Schlange bildete.
Maigret stieg langsam die Treppe hinunter. Nach all den Jahren bei der Kriminalpolizei, darunter auch jene als Bereitschaftspolizist auf den Straßen und Bahnhöfen, meinte er, die gesamte Fauna der Pariser Unterwelt zu kennen, aber er erinnerte sich nicht, jemals auf einen Mann wie diesen Aristo gestoßen zu sein.