Was als Spiel begann - Ein Norwegen-Krimi. Unni Lindell
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Читать онлайн книгу Was als Spiel begann - Ein Norwegen-Krimi - Unni Lindell страница 9
Der Orchestergraben trennt Schauspieler und Publikum. Trennt das künstliche Leben vom wirklichen Leben. Ist ein dunkler Gürtel zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit. Ist ein Grab, in dem die Musik lebt.
Pavel
Ellen Grue erhob sich und steckte die Papiere in eine Plastiktüte. Jetzt reicht es, Ellen, hatte der Ehemann geschrieben. Solche schriftlichen Mitteilungen waren bei einer Ermittlung oft wertvoll. Auch der andere Brief, in dem stand, »ein Grab, in dem die Musik lebt«, war unheimlich, dachte sie und schickte Cato Isaksen eine SMS. »Hab vielleicht was gefunden«, schrieb sie und ging rasch und effektiv das restliche Schlafzimmer durch, ohne dass noch etwas von Interesse aufgetaucht wäre. Auf der Treppe kam ihr Roger Høibakk entgegen. »Ich hab einige ziemlich schwülstige Briefe gefunden«, sagte sie. »Vor allem zwei sind interessant. Von einem Musiker aus dem Orchester, unter anderem. Und du?«
Roger Høibakk schüttelte den Kopf. »Nichts«, sagte er.
Der alte Mann spürte, dass der Tod unterwegs auf dem Beifahrersitz gesessen hatte. Die Fahrt nach Oslo war eine große Belastung gewesen. Cato Isaksen und Randi Johansen kamen aus der Kellerwohnung, als Odd Lindsjø gerade in seinem alten Volvo eintraf. Es war 17:30 Uhr. Der Siebzigjährige war kreidebleich und niedergeschlagen. Seine weißen Haare rahmten Augen voller Nacht ein. Das Bild seiner toten Tochter, die in einem eiskalten Kühlraum lag, hatte ihn auf dem ganzen Weg verfolgt. Er dachte daran, wie er sie zum ersten Mal in den Arm genommen hatte, in einem großen weißen Handtuch. Und wie er ihr einige Jahre später eins auf die Finger gegeben hatte, wenn sie an den Knöpfen seines Radios herumspielte. Er begrüßte die Ermittler wortlos. Er hatte für Maiken ein Fotoalbum mitgebracht, mit Bildern von Siv Ellen in einem geblümten Kleid. Sie hielt einen großen Wasserball in den Händen und hatte sandigen Boden unter den Füßen. Es war in dem heißen Sommer gewesen. Einen solchen Sommer hatte es seitdem nie mehr gegeben. Die Schwarz-Weiß-Fotos hatten viele Farben. Er dachte daran, wie seine Tochter als kleines Kind gewesen war, sie hatte ihm geholfen, die Mülltonne vor das Haus zu stellen. Jeden Montag, ehe sie in die Schule ging.
Odd Lindsjø öffnete den Kofferraum. Im Nachbargarten bellte ein Hund, und das Eis lag endlos und grau über dem Hofplatz.
Cato Isaksen stürzte hinzu und half ihm, seinen Koffer aus dem Wagen zu heben. Der andere bedankte sich höflich. Randi und Cato sahen einander erleichtert an und waren froh darüber, dass sie Siv Ellen Blads Vater seine sechzehn Jahre alte Enkelin überlassen konnten.
Randi sah nach, ob in Kühlschrank und Tiefkühltruhe etwas zu essen war, ehe sie und Cato Isaksen auf die Wache zurückfuhren. Ellen Grue und Roger Høibakk waren noch im Haus beschäftigt, aber sie würden im Laufe einer halben Stunde fertig sein.
»Ist es nicht doch seltsam«, kommentierte Randi, als sie zur Wache zurückfuhren, »in so einer Situation, meine ich, wo die Mutter umgebracht worden ist und der Kleinen doch alles chaotisch vorkommen muss, dass sie da trotzdem so wütend auf ihren Vater ist? Das kommt mir seltsam vor. Sie muss ihn wirklich hassen.«
Cato Isaksen gab keine Antwort. Er sah eine Familie, die hinter einem hell erleuchteten Fenster, an dem sie vorbeifuhren, beim Essen saß. Er dachte daran, wie sein ältester Sohn ihn verabscheut hatte, als er damals mit Sigrid Velde zusammengezogen war. Das Ganze hatte einige Zeit darauf ein Ende mit Schrecken genommen, als der Sohn mit Drogen experimentiert und sich wirklich in Gefahr gebracht hatte. Cato Isaksen war damals auf irgendeine Weise abgesunken. Das Gefühl, versagt zu haben, würde für immer ein Fragment von Wahrheit in sich tragen, auch wenn es jetzt mit seinem Sohn wieder gut ging.
»Jeanette Myren ist ja eine tatkräftige junge Frau«, sagte Randi Johansen jetzt. »Oder was meinst du?«
»So jung ist sie ja nun auch wieder nicht«, erwiderte Cato Isaksen.
»Wie lang müssen wir heute noch weitermachen?« Randi schaute rasch auf die Uhr. »Wollen wir auch noch Remy Steen zur Vernehmung holen?«
Cato Isaksen zuckte mit den Schultern. »In ein paar Tagen vielleicht«, sagte er. »Wir nehmen uns eins nach dem anderen vor. Ich glaube, jetzt konzentrieren wir uns erst einmal auf diesen Musiker, von dem der Brief stammt, den Ellen gefunden hat. Und auf Axel Blad. Der hat nämlich kein Alibi.«
Ein jämmerlicher vergessener goldener Adventsstern hing an einem Faden im Fenster.
Die Ermittler sammelten sich zu einer raschen Besprechung um den ovalen Tisch im Besprechungsraum. Abteilungsleiterin Ingeborg Myklebust war, zu Cato Isaksens Erleichterung, bei diesem ersten Durchgang nicht anwesend. Die Polizei hatte zu diesem frühen Zeitpunkt natürlich noch keine konkreten Spuren, nur fragmentarische Bilder dessen, was vielleicht geschehen war. Randi Johansen ging Kaffee holen und kehrte zurück mit einem Tablett voller Tassen und einer halb vollen Pfefferkuchendose mit einem roten Deckel. Während sie die Tassen verteilte, trudelten die Kollegen einer nach dem anderen ein. Bjørn Thorsen und Stein Billington setzten sich nebeneinander. Asle Tengs holte die Stühle von der Wand und schob sie an den Tisch. Dann kam Ellen Grue mit der Tüte, die die gefundenen Briefe und Papiere enthielt. Sie erwiderte Cato Isaksens Blick. Sie brauchte einige Sekunden, um sich einen Platz auszusuchen. Am Ende nahm sie ihm gegenüber am Tisch Platz.
Er betrachtete ihr hübsches Gesicht, die kurzen, gerade geschnittenen dunklen Haare, Augenbrauen und Wimpern, den ganz besonderen hellen Farbton ihrer Augen. Der ausgeschnittene Pullover zeigte den Bogen von Schulterblättern zum Hals. Cato Isaksen gab sich alle Mühe, nicht an sie zu denken. Sie war jetzt verheiratet, mit einem viel älteren Mann. In ihrem Gesicht las er etwas über fehlenden Schlaf. Aber die Zeit, die sie einige Jahre zuvor miteinander verbracht hatten, würde ihm immer im Gedächtnis bleiben. Nur schien das alles so lange her zu sein. Ein Sommer wurde zu einem Jahr. Dann kamen Winter und Frühjahr und Sommer und Herbst und noch ein Winter.
Seine Augen fanden einen anderen Ruhepunkt, als plötzlich Roger Høibakk das Zimmer betrat. Er kam wie üblich fünf Minuten zu spät und ließ sich auf einen freien Stuhl fallen.
Diese Ablenkungen verschafften Cato Isaksen eine Atempause von einigen Sekunden. Er dachte an Georg. Bente hatte den Siebenjährigen nun doch mit zur Arbeit nehmen und ihn eine halbe Stunde dort beschäftigen müssen, bis Gard, der Älteste, ihn geholt hatte. Cato Isaksen hatte ihm dreihundert Kronen für diese Mühe versprochen.
Bisher bestand die Ermittlergruppe aus zehn Personen, aber das Team würde erweitert werden. Cato Isaksen bildete drei Gruppen und verteilte Aufgaben. Die jungen Zeugen würden zur Vernehmung bestellt werden müssen, drei Kollegen führten in der Umgebung des Tatortes bereits eine Nachbarschaftsbefragung durch. Das war eine ziemliche Aufgabe, denn im Zentrum von Vinderen gab es viele Wohnungen und Häuser. Die Shell-Tankstelle auf der anderen Seite der U-Bahn-Gleise hatte versprochen, die Sicherheitsaufzeichnungen der Nacht und des Vorabends zu übersenden.
»Siv Ellen Lindsjø Blad spielte Bratsche und wurde ab und zu von unterschiedlichen Orchestern verpflichtet«, begann Roger Høibakk. »Jetzt war sie von der Oper für ›Schwanensee‹ engagiert. Sie war außerdem bei der Post angestellt und arbeitete am Schalter im Postamt Majorstua. Sie war seit neun Jahren bei der Post und galt als respektierte Kollegin.«
»Was ist mit Axel Blads Mietshaus?«
Asle Tengs beugte sich über den Tisch. »Da sind jetzt zwei Kollegen am Werk«, sagte er rasch. »Axel Blad macht einen ziemlich gestressten Eindruck.«
»Es kann so aussehen, als sei die Ermordete eine U-Bahn-Station zu früh ausgestiegen«, sagte Roger Høibakk. »Richtig für sie wäre doch Gaustad.«
»Falls sie kein Taxi genommen hat. Das überprüfen wir gerade«,