Eine Studie in Scharlachrot. Sir Arthur Conan Doyle
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Eine Studie in Scharlachrot - Sir Arthur Conan Doyle страница 4
6 Geologie — Viel praktische Erfahrung, aber nur auf beschränktem Gebiet. Er unterscheidet sämtliche Erdarten auf den ersten Blick. Von Ausgängen zurückgekehrt, weiss er nach Stoff und Farbe der Schmutzflecke auf seinen bespritzten Beinkleidern die Stadtgegend von London anzugeben, aus welcher die Flecken stammen.
7 Chemie — Sehr gründlich.
8 Anatomie — Genau, aber unmethodisch.
9 Kriminalstatistik — Erstaunlich umfassend. Er scheint alle Einzelheiten jeder Greuelthat, die in unserem Jahrhundert verübt worden ist, zu kennen.
10 Ist ein guter Violinspieler.
11 Ein gewandter Boxer und Fechter.
12 Ein gründlicher Kenner der britischen Gesetze.
Weiter las ich nicht; ich zerriss meine Liste und warf sie ärgerlich ins Feuer. „Wie kann der Mensch behaupten, dass es einen Beruf giebt, in dem sich alle diese verschiedenartigen Kenntnisse verwerten und unter einen Hut bringen lassen,“ rief ich. „Es ist vergebliche Mühe, dies Rätsel lösen zu wollen.“
Holmes’ Fertigkeit auf der Violine war gross, aber ganz eigener Art, wie alles bei diesem ungewöhnlichen Menschen. Gelegentlich spielte er mit wohl des Abends von meinen Lieblingsstücken vor, was ich verlangte; war er aber sich selbst überlassen, so liess er selten eine bekannte Melodie hören. Er lehnte sich dann in den Armstuhl zurück, schloss die Augen und fuhr mechanisch mit dem Bogen über das Instrument, welches auf seinen Knieen lag. Die Töne, die er dann den Saiten entlockte, waren stets der Ausdruck seiner augenblicklichen Empfindung, bald leise und klagend, bald heiter, bald schwärmerisch. Ob er dabei nur den wechselnden Launen seiner Einbildung folgte oder durch die Musik die Gedanken, welche ihn gerade beschäftigten, besser in Fluss bringen wollte, vermochte ich nicht zu sagen. Ich hätte sicherlich gegen seine herzzerreissenden Solovorträge Einspruch erhoben, allein, um mich einigermassen für die Geduldsprobe zu entschädigen, die er mir auferlegte, endigte er gewöhnlich damit, dass er rasch hintereinander eine ganze Reihe meiner Lieblingsmelodien spielte und das versöhnte mich wieder.
In der ersten Woche bekamen wir keinen Besuch, und ich fing schon an zu glauben, mein Gefährte stehe ebenso allein in der Welt, wie ich selber. Bald stellte sich jedoch heraus, dass er viele Bekannte hatte und zwar in allen Schichten der Gesellschaft. Der kleine Mensch mit dem blassgelben Gesicht, der einer Ratte ähnelte und mir als Herr Lestrade vorgestellt wurde, kam im Lauf von acht Tagen mindestens drei- oder viermal. Eines Morgens erschien ein elegant gekleidetes junges Mädchen, das über eine halbe Stunde dablieb. Am Nachmittag desselben Tages fand sich ein schäbiger Graubart ein, der wie ein jüdischer Hausierer aussah und hinter dem ein hässliches, altes Weib hereinschlürfte. Bei einer späteren Gelegenheit hatte ein ehrwürdiger Greis eine längere Unterredung mit Holmes und dann wieder ein Eisenbahnbeamter in Uniform. Jedesmal, wenn sich einer dieser merkwürdigen Besucher einstellte, bat mich Holmes, ihm das Wohnzimmer zu überlassen, und ich zog mich in meine Schlafstube zurück. Er entschuldigte sich vielmals, dass er mir diese Unbequemlichkeit auferlege. „Ich muss das Zimmer als Geschäftslokal benützen, die Leute sind meine Klienten.“
Auch diese Gelegenheit, mir Aufschluss über sein Thun zu verschaffen, liess ich aus Zartgefühl ungenützt vorübergehen. Mir widerstand es, ein Vertrauen zu erzwingen, das er mir nicht von selbst entgegenbrachte, und schliesslich bildete ich mir ein, er habe einen bestimmten Grund, mir sein Geschäft zu verheimlichen. Dass ich mich hierin getäuscht hatte, sollte ich indessen bald erfahren.
Am vierten März — der Tag ist mir im Gedächtnis geblieben — war ich früher als gewöhnlich aufgestanden und fand Sherlock Holmes beim Frühstück. Mein Kaffee war noch nicht fertig, und ärgerlich, dass ich warten musste, nahm ich ein Journal vom Tisch, um mir die Zeit zu vertreiben, während mein Gefährte schweigend seine gerösteten Brotschnitten verzehrte.
Mein Blick fiel zuerst auf einen Artikel, der mit Blaustift angestrichen und ,Das Buch des Lebens‘ betitelt war. Der Verfasser versuchte darin auseinanderzusetzen, dass es für einen aufmerksamen Beobachter von Menschen und Dingen im alltäglichen Leben unendlich viel zu lernen gäbe, wenn er sich nur gewöhnen wollte, alles, was ihm in den Weg käme, genau und eingehend zu prüfen. Die Beweisführung war kurz und bündig, aber die Schlussfolgerungen schienen mir weit hergeholt und ungereimt, das Ganze eine Mischung von scharfsinnigen und abgeschmackten Behauptungen. Ein Mensch, der zu beobachten und zu analysieren verstand, musste danach befähigt sein, die innersten Gedanken eines jeden zu lesen und zwar mit solcher Sicherheit, dass es dem Uneingeweihten förmlich wie Zauberei vorkam.
„Das Leben ist eine grosse, gegliederte Kette von Ursachen und Wirkungen,“ hiess es weiter; „an einem einzigen Gliede lässt sich das Wesen des Ganzen erkennen. Wie jede andere Wissenschaft, so fordert auch das Studium der Deduktion und Analyse viel Ausdauer und Geduld; ein kurzes Menschendasein genügt nicht, um es darin zur höchsten Vollkommenheit zu bringen. Der Anfänger wird immer gut thun, ehe er sich an die Lösung hoher geistiger und sittlicher Probleme wagt, welche die grössten Schwierigkeiten bieten, sich auf einfachere Aufgaben zu beschränken. Zur Uebung möge er zum Beispiel bei der flüchtigen Begegnung mit einem Unbekannten den Versuch machen, auf den ersten Blick die Lebensgeschichte und Berufsart des Menschen zu bestimmen. Das schärft die Beobachtungsgabe und man lernt dabei richtig sehen und unterscheiden. An den Fingernägeln, dem Rockärmel, den Manschetten, den Stiefeln, den Hosenknieen, der Hornhaut an Daumen und Zeigefinger, dem Gesichtsausdruck und vielem andern, lässt sich die tägliche Beschäftigung eines Menschen deutlich erkennen. Dass ein urteilsfähiger Forscher, der die verschiedenen Anzeichen zu vereinigen weiss, nicht zu einem richtigen Schluss gelangen sollte, ist einfach undenkbar.“
„Was für ein thörichtes Gewäsch,“ rief ich, und warf das Journal auf den Tisch; „meiner Lebtag ist mir dergleichen nicht vorgekommen.“
Sherlock Holmes sah mich fragend an.
„Sie haben den Artikel angestrichen,“ fuhr ich fort, „und müssen ihn also gelesen haben. Dass er geschickt abgefasst ist, will ich nicht bestreiten. Mich ärgern aber solche widersinnige Theorien, die daheim im Lehnstuhl aufgestellt werden und dann an der Wirklichkeit elend scheitern. Der Herr Verfasser sollte nur einmal in einem Eisenbahnwagen dritter Klasse fahren und probieren, das Geschäft eines jeden seiner Mitreisenden an den Fingern herzuzählen. Ich wette tausend gegen eins, er wäre dazu nicht imstande.“
„Sie würden Ihr Geld verlieren,“ erwiderte Holmes ruhig. „Was übrigens den Artikel betrifft, so ist er von mir.“
„Von Ihnen?“
„Ja; ich habe ein besonderes Talent zur Beobachtung und Schlussfolgerung. Die Theorien, welche ich hier auseinandersetze und die Ihnen so ungereimt erscheinen, finden in der Praxis, ihre volle Bestätigung, ja, was noch mehr ist — ich verdiene mir damit mein tägliches Brot.“
„Wie ist das möglich?“ fragte ich unwillkürlich.
„Mein Handwerk beruht darauf. Ich bin beratender Geheimpolizist — wenn Sie verstehen, was das heisst — vielleicht bin ich der einzige meiner Art. Es giebt hier in London Detektivs die Menge, welche teils im Dienst der Regierung stehen, teils von Privatpersonen gebraucht werden. Wenn diese Herren nicht mehr aus noch ein wissen, kommen sie zu mir, und ich helfe ihnen auf die richtige Fährte. Sie bringen mir das ganze Beweismaterial, und ich bin meist imstande, ihnen mit Hilfe meiner Kenntnis der Geschichte des Verbrechens den rechten Weg zu weisen. Die Missethaten der Menschen haben im allgemeinen eine starke Familienähnlichkeit unter einander und wenn man alle Einzelheiten von tausend Verbrechen im Kopfe hat, so müsste es wunderbar zugehen, vermöchte man das tausend und erste nicht zu enträtseln. Lestrade ist ein bekannter Detektiv. Er hat sich kürzlich mit einer