Eine Studie in Scharlachrot. Sir Arthur Conan Doyle
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Читать онлайн книгу Eine Studie in Scharlachrot - Sir Arthur Conan Doyle страница 5
„Können Sie wirklich, während Sie ruhig auf Ihrem Zimmer bleiben, die verwickelten Knoten lösen, welche die andern nicht zu entwirren vermögen, selbst, wenn sie mit eigenen Augen gesehen haben, wo sich alles zugetragen hat?“
„Das habe ich oft gethan; es ist bei mir eine Art innerer Eingebung. Liegt ein besonders schwieriger Fall vor, so besehe ich mir den Schauplatz der That wohl auch einmal selbst. Ich habe so mancherlei Kenntnisse, die mir die Arbeit wesentlich erleichtern. Meine grosse Uebung in der Schlussfolgerung, wie sie jener Artikel darlegt, ist für mich zum Beispiel von hohem praktischem Wert. Mir ist die Beobachtung zur zweiten Natur geworden. Als ich Ihnen bei unserer ersten Begegnung sagte, Sie kämen aus Afghanistan, schienen Sie sich darüber zu verwundern.“
„Irgend jemand muss es Ihnen gesagt haben.“
„Bewahre; ich wusste es ganz von selbst. Da mein Gedankengang meist sehr schnell ist, kommen mir die Schlüsse in ihrer Reihenfolge kaum zum Bewusstsein. Und doch steht alles in logischem Zusammenhang. Ich folgerte etwa so: Der Herr sieht aus wie ein Mediziner und hat dabei eine soldatische Haltung. Er muss Militärarzt sein. Die dunkle Gesichtsfarbe hat er nicht von Natur, denn am Handgelenk ist seine Haut weiss, also kommt er geradeswegs aus den Tropen. Dass er allerlei Beschwerden durchgemacht hat, zeigen seine abgezehrten Wangen; sein linker Arm muss verwundet gewesen sein, er hält ihn unnatürlich steif. In welcher Gegend der Tropen kann ein englischer Militärarzt sich Wunden und Krankheit geholt haben? — Versteht sich in Afghanistan. — In weniger als einer Sekunde war ich zu dem Schluss gelangt, der Sie in Erstaunen setzte.“
„Wie Sie die Sache erklären, scheint sie sehr einfach. In Büchern liest man wohl von solchen Dingen, aber dass sie in Wirklichkeit vorkämen, hätte ich nicht gedacht.“
„Wenn es nur noch Verbrechen gäbe, zu deren Entdeckung man besonderen Scharfsinn braucht,“ fuhr Holmes missmutig fort. „Ich weiss, es fehlt mir nicht an Begabung, um meinen Namen berühmt zu machen. Kein Mensch auf Erden hat jemals so viel natürliche Anlage für mein Fach besessen oder ein so tiefes Studium darauf verwendet. Aber was nützt mir das alles? Die Missethäter sind sämtlich solche Stümper und ihre Zwecke so durchsichtig, dass der gewöhnliche Polizeibeamte sie mit Leichtigkeit zu ergründen vermag.“
Es verdross mich, ihn mit solcher Selbstüberschätzung reden zu hören. Um der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben, trat ich ans Fenster.
„Was mag wohl der Mann da drüben suchen?“ fragte ich, auf einen einfach gekleideten, stämmigen Menschen deutend, welcher sämtliche Häusernummern auf der gegenüberliegenden Strassenseite zu mustern schien. Er hielt einen grossen, blauen Umschlag in der Hand und hatte offenbar eine Botschaft auszurichten.
„Sie meinen den verabschiedeten Marinesergeanten?“ fragte Sherlock Holmes.
Ich machte grosse Augen. Er hat gut mit seiner Weisheit prahlen,“ dachte ich bei mir; „wer will ihm denn beweisen, dass er falsch geraten hat?“
In dem Augenblick hatte der Mann, den wir beobachteten, unsere Nummer erblickt, und kam rasch quer über die Strasse gegangen. Gleich darauf klopfte es laut an der Haustüre unten, man vernahm eine tiefe Stimme und dann schwere Schritte auf der Treppe.
Der Mann trat ein.
„Für Herrn Sherlock Holmes,“ sagte er, meinem Gefährten den Brief einhändigend.
Ich ergriff die günstige Gelegenheit, um Holmes von seiner Einbildung zu heilen. An die Möglichkeit hatte er wohl nicht gedacht, als er den raschen Schuss ins Blaue that. „Darf ich Sie wohl fragen, was Sie für ein Geschäft betreiben?“ redete ich den Boten freundlich an.
„Dienstmann,“ lautete die kurze Antwort. „Uniform gerade beim Schneider zum Ausbessern.“
„Und früher waren Sie —” fuhr ich mit einem schlauen Blick auf Holmes fort.
„Sergeant bei der leichten Infanterie der königlichen Marine. — Keine Rückantwort? — Sehr wohl. Zu Befehl.“
Er schlug die Fersen aneinander, erhob die Hand zum militärischen Gruss und fort war er.
Drittes Kapitel.
Brixtonstrasse Nummer drei.
Dieses neue Beispiel von der praktischen Anwendbarkeit der Theorien meines Freundes überraschte mich höchlich und flösste mir grossen Respekt vor seiner Beobachtungsgabe ein. Zwar wollte mich ein leiser Argwohn beschleichen, ob die Sache nicht doch am Ende ein zwischen den beiden abgekartetes Spiel sei, aber welchen möglichen Zweck hätte das haben können? — Als ich mich nach Holmes umwandte, hatte er eben den Brief durchgelesen und starrte mit ausdruckslosem Blick, wie geistesabwesend, vor sich hin.
„Wie in aller Welt haben Sie denn das wieder erraten?“ fragte ich.
„Erraten — was?“ rief er gereizt auffahrend.
„Nun, dass der Mann ein abgedankter Marinesergeant war.“
„Jetzt ist keine Zeit zu Spielereien,“ stiess er in rauhem Ton hervor, fuhr aber gleich darauf lächelnd fort: „Entschuldigen Sie meine Grobheit, Sie haben meinen Gedankengang unterbrochen; doch, das schadet vielleicht nichts. — Also Sie haben wirklich nicht sehen können, dass der Mann Sergeant in der Marine gewesen ist?“
„Wie sollte ich?“
„Es scheint mir doch sehr einfach. Freilich ist es nicht leicht zu erklären, wie ich zur Kenntnis solcher Thatsachen komme. Dass zweimal zwei vier ist, leuchtet jedem ein, forderte man Sie aber auf, es zu beweisen, so würden Sie es schwierig finden. Schon über die Strasse hatte ich den blauen tätowierten Anker auf der Hand des Mannes gesehen und die See gewittert; zudem bemerkte ich seine militärische Haltung und das verriet mir den Marinesoldaten.’ Er trug den Kopf hoch und schwang seinen Stock mit Selbstbewusstsein und einer gewissen Befehlshabermiene; dabei trat er fest und würdevoll auf und war ein Mann in mittleren Jahren — natürlich musste er Sergeant gewesen sein.“
„Wunderbar!“ rief ich.
„Höchst alltäglich,“ versetzte Holmes, doch sah ich ihm am Gesicht an, dass er sich geschmeichelt fühlte. „Eben noch behauptete ich,“ fuhr er fort, „es gäbe keine geheimnisvollen Verbrechen mehr zu enträtseln. Das scheint ein Irrtum gewesen zu sein — hiernach zu urteilen.“ Er schob mir den Brief hin, welchen der Dienstmann gebracht hatte.
„Wie schrecklich,“ rief ich, ihn überfliegend.
„Es klingt allerdings etwas ungewöhnlich; wären Sie so gut, mir den Brief noch einmal vorzulesen?“
Der Brief lautete wie folgt:
„ Lieber Herr Holmes!
Heute nacht hat sich in der Brixtonstrasse Nummer 3 ein schlimmer Fall zugetragen. Unser Posten sah dort auf seinem Rundgang gegen zwei Uhr einen Lichtschimmer, und da das Haus unbewohnt ist, schöpfte er Verdacht. Er fand die Thür offen und in dem unmöblierten Vorderzimmer den Leichnam eines gutgekleideten Herrn am Boden liegen. Enoch J. Drebber, Cleveland, Ohio U. S. A. stand auf den Visitenkarten, die er in seiner Brusttasche trug. Eine Beraubung ist nicht erfolgt und die Todesursache noch unermittelt, denn es