Das Erbe sind wir. Michael Meyen
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Als ich Uwe Krüger Ende 2016 das erste Mal getroffen habe, ein paar Monate nach der Jubelfeier zu 100 Jahren Karl Bücher, war er gerade dabei, die Wissenschaft zu verlassen. In Sachsen wurden Lehrer gesucht, auch Quereinsteiger, am besten Menschen wir Krüger, Jahrgang 1978, hoch gebildet. Uwe Krüger hat zwei Kinder. Warum also nicht, zumal er an der Universität nur eine halbe Stelle hatte und auch das nur noch für ein paar Monate. Man muss sich das einmal vorstellen: eine akademische Disziplin, die einen ihren Helden verstößt, weil die, die am Machtpol sitzen und das Sagen haben, ihn nicht für einen Helden halten, sondern für eine Gefahr. Krügers Dissertation kennt jeder, der irgendwie unzufrieden ist mit dem, was die Leitmedien aus der Welt machen. Er zeigt dort, wie stark deutsche Alpha-Journalisten in andere Elitenmilieus eingebunden sind.80 Am 29. April 2014 haben Claus von Wagner und Max Uthoff in der ZDF-Satiresendung Die Anstalt aus Krügers Material eine Tafelnummer gemacht, die viral ging und den Begriff ›transatlantische Netzwerke‹ salonfähig machte in der Debatte um die Qualität der des Journalismus.81 Die Kommunikationswissenschaft hat diese Dissertation bekämpft, frei nach dem Motto: Was als Realität durchgeht, bestimmen immer noch wir.82
Es ist fast zu kitschig, aber ich muss das hier trotzdem aufschreiben: Uwe Krüger ist wie ich auf der Insel Rügen aufgewachsen und hat seine ersten Texte in der Ostsee-Zeitung veröffentlicht. Gerhard Ladda, mein Mathelehrer, der im nächsten Kapitel wieder auftauchen wird, war zehn Jahre später sein Klassenlehrer in der Kreisstadt Bergen. Für Krüger und mich war es nicht so schwer, uns auf den Veranstaltungstitel zu einigen, der Karl Friedrich Reimers ein paar Monate später auf die Palme bringen sollte. Auch das muss man sich erst einmal vorstellen: ein Gründungsdekan, der es immer noch nicht erträgt, das andere öffentlich über das sprechen, was er vor 30 Jahren gemacht hat, und dabei möglicherweise eine andere Sicht vertreten als er selbst. Die drei Seiten Interview mit sich selbst, die er kurz vor der Podiumsdiskussion an so viele Leute geschickt hat, dass sie schnell auch bei Krüger und mir sind, lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Wer von ›Abriss‹ spricht und vor allem von ›Verwestlichung‹, der hat nicht nur keine Ahnung, sondern weder die Quellen kritisch gelesen noch die einschlägige Literatur.83
Karl-Heinz Röhr hat von diesem Abend nicht allzu viel erwartet. Es sei inzwischen viel zu viel Zeit vergangen, »um alte Wunden zu lecken«, schreibt er ein paar Tage vorher an Uwe Krüger. »Und neue Selbsterkenntnis kann man wohl von den westdeutschen Partnern kaum erwarten«.84 Ich habe ihn hinterher gar nicht gefragt, ob er sich über Heike Schüler gefreut hat, die auf dem Podium gegen die Mär anspricht, Journalisten seien in der DDR nichts weiter gewesen als Erfüllungsgehilfen der Partei (»Ich wollte die Gesellschaft verbessern. Den Sozialismus verbessern. Etwas verändern, zum Guten«), und die »journalistische Ausbildung« sowie ihre Dozenten mit DDR-Hintergrund fast über den grünen Klee lobt (»Das ist wirklich großes Handwerk gewesen. Großes Wissen«). Röhr muss mir unbedingt sagen, wie froh er ist, dass es in Leipzig jetzt diesen Uwe Krüger gibt, inzwischen sogar auf einer unbefristeten Stelle. Und er will über Hans Poerschke sprechen.
Ich muss die Rede von Poerschke und seine Wortbeiträge hier nicht wiederholen. Das ist alles gleich doppelt im Netz, als Video und in einer Schriftfassung. Man kann dort hören oder lesen, wie er den Begriff ›Landnahme‹ verstanden wissen möchte: »Unverhofft wurde auf bislang fremdem Territorium ein Stück herrenlos gewordenes akademisches Bauland verfügbar«. Baupläne, Baumaterial, Bauleute: alles aus dem Westen. Und kein Platz für das, was in Leipzig trotz Parteiherrschaft gewachsen war: Geschichte des Journalismus (mein Bereich), Poerschkes eigene »Ansätze zu einer Theorie der sozialen Kommunikation«, die Inhaltsanalyse, die bei Wulf Skaun und Wolfgang Tiedke so nah dran war an der Medienrealität, dass die Partei die Befunde im Panzerschrank verschloss, die Arbeiten zur Stilistik, die Horst Pöttker später in Dortmund vor dem Vergessen rettete,85 und der »journalistische Schaffensprozess«. Sigrid Hoyer, zum Beispiel.
Zur »Landnahme« gehört bei Hans Poerschke die Evaluation, die »keine umfassende, systematische Analyse« des Vorgefundenen gestattet habe, weil es jeweils nur um einen Einzelnen ging, und das auch noch »gefärbt durch die persönliche Sicht der beiden Gesprächspartner«. Eigentlich, so Poerschke weiter, sei nur geprüft worden, ob man »integrierbar« war in das, was der Westen mitbrachte nach Leipzig. Mit Kurt Koszyk, seinem eigenen Evaluator, hat Hans Poerschke Mitleid. Ein Mann aus Dortmund, der über etwas urteilen sollte, das von sowjetischer Literatur lebte, die er nicht verstand. Warum, fragt Hans Poerschke im Zeitgeschichtlichen Forum, warum hat man uns nicht einfach gemeinsam arbeiten und so schnell merken lassen, »wer welchen Geistes Kind ist«? Warum hat man den Traditionsstandort Leipzig nicht für ein Projekt genutzt, dass das deutsch-deutsche »Kennenlernen« wissenschaftlich begleitet und so den Journalisten hilft, »Formen der Diskussion und des Streits, Formen des Umgangs miteinander« zu finden? In diesem Moment weiß ich, dass ich dieses Buch schreiben muss.
Anmerkungen
1E-Mail von Karl-Heinz Röhr an Uwe Krüger, 12. November 2019
2Karl-Heinz Röhr: Um journalistische Qualität geht es immer und überall. In: Michael Meyen, Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015. http://blexkom.halemverlag.de/karl-heinz-roehr/ (7. Februar 2020)
3Gespräch mit Karl-Heinz Röhr am 7. Januar 2020, Gedächtnisprotokoll
4Hans Poerschke: Ich habe gesucht. In: Michael Meyen, Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015. http://blexkom.halemverlag.de/hans-poerschke/ (7. Februar 2020)
5Röhr: Qualität, Poerschke: Ich habe gesucht
6Alina Reichenbach im Gespräch mit Karl Friedrich Reimers, 12. November 2019, Auszug. Zur Veranstaltung am 21. November 2019 im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig. In: Privatarchiv Michael Meyen
7Vgl. Jochen Ernst: Der vorzeitige Ruhestand in Ostdeutschland und einige Aspekte der sozialen Lage der Frührentner in den neuen Ländern. In: Sozialer Fortschritt 42. Jg. (1993), Nr. 9, S. 211-217
8Röhr: Qualität
9Michael Meyen: Leipzig nach der Wende: Landnahme, Verwestlichung oder Strukturwandel? In: Michael Meyen, Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2020. http://blexkom.halemverlag.de/landnahme/ (7. Mai 2020). – Alle weiteren Zitate von der Veranstaltung sind aus dieser Dokumentation.