Das Erbe sind wir. Michael Meyen
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Wolfgang Tiedke ist am 15. November 1989 als Chefredakteur zur Leipziger Volkszeitung gegangen, gerufen von einer Redaktion, die nicht mehr so weitermachen konnte wie bisher und sich an diesen immer noch jungen und jungenhaften Wissenschaftler erinnerte, der vor ein paar Jahren auch hier gegen den Strich gebürstet hatte. Tiedke selbst war sich 20 Jahre später sicher, dass er sonst »irgendwann« Direktor der Sektion Journalistik geworden wäre. »Das hätte ich als angemessen empfunden«. Er weiß, dass wir Studenten ihm den Wechsel zur LVZ »sehr übel genommen« haben (»erst hier die große Fresse und dann einfach abhauen«), und nimmt auch nach einer so langen Besinnungspause für sich in Anspruch, als Dozent »die richtigen Fragen« gestellt zu haben (»wenn auch vielleicht nicht immer scharf genug«).70
Auch Wulf Skaun galt damals nicht wenigen als ›Hoffnungsträger der Sektion‹. Selbst rechnete er mindestens mit dem Lehrstuhl, den er seit 1984 ohnehin schon leitete, wenn auch ohne Professorentitel.71 Die Karteikarten, auf denen das steht, was er bei der Evaluierung sagen wollte, hat Skaun noch daheim. Für ihn wird sich das immer anfühlen wie gestern. »In der Sache wäre ich penibel und quellentreu gewesen und in der Form souverän-lässig. Ich hätte über mediensoziologische Ansätze hüben und drüben gesprochen. Ich hätte auch gesagt, dass ich bis auf Noelle-Neumanns Schweigespirale72 keines der westdeutschen Konzepte als Original gelten lasse. Zur Geschichte der Inhaltsanalyse gab es dort gar nichts. Ost und West waren nicht so weit auseinander. Und dann hätte ich gesagt, dass ich keinen Anspruch erhebe auf eine Stelle«.73
Eine solche Phantasie kennt jeder, der im Job leidet. Mit großer Geste alles hinknallen. Wie die meisten hat auch Wulf Skaun das nur im Kopf durchgespielt. Er sagt heute, er sei »freiwillig gegangen«. 15 Jahre Mitglied der SED-Kreisleitung in der Universität, von 1974 bis 1989. Am Rektoratsgebäude habe er jeden Tag in großen Buchstaben lesen können, dass genau diese Leute jetzt »in den Tagebau« gehören. Und dann sei da auch so etwas wie Solidarität gewesen, mit Günter Raue und Klaus Preisigke, den beiden Direktoren, die bei den Studenten schon durchgefallen waren, bevor Karl Friedrich Reimers kam. Wulf, hätten die Genossen gesagt: »Du wirst dich doch nicht auf dieses bürgerliche Tribunal einlassen. Wir machen das nicht«. Weiß man in einem solchen Moment, dass das eine der Entscheidungen ist, die einen bis ins Grab verfolgt? »Kleinkariert« sei das damals gewesen, sagt Wulf Skaun. »Ich war ja nicht abgewählt worden. Ich habe mich um ein letztes intellektuelles Vergnügen an der Sektion gebracht«.74
WAS DIE KOMMUNIKATIONSWISSENSCHAFT VOR 30 JAHREN VERLOREN HAT
Dass Hans Poerschke heute Abend im Zeitgeschichtlichen Forum sprechen darf, vor einem vollen Saal, zunächst ganz allein am Pult und dann in einer Podiumsrunde mit zwei Professoren, die aus dem Westen nach Leipzig kamen, ist eine Sensation. Das sanfte Abschieben in den Altersübergang, die Zumutungen der Evaluation, der Rücktritt in die zweite Reihe selbst bei Kolleginnen wie Sigrid Hoyer, die von Westdeutschen einen Eignungsstempel bekamen: All das ist nur ein Teil der Wahrheit über die Vereinigung der Leipziger Journalistik mit der Kommunikationswissenschaft, die in Mainz bis heute Publizistik heißt. Zu dieser Wahrheit gehört auch, dass es die DDR in dieser akademischen Disziplin überhaupt nicht gibt.
Genau wie jeder Mensch steht auch eine Wissenschaftsgemeinschaft vor der Aufgabe, Kontinuität über Zeit und Raum herzustellen. Ich schreibe dieses Buch, um das, was ich heute bin, mit gestern und vorgestern zu verbinden. Göhren auf Rügen und Ruth Bahls, die uralte Englischlehrerin und Museumsgründerin, mit der Ostsee-Zeitung, für die auch Sigrid Hoyer und Wulf Skaun geschrieben haben, meine Dozenten an der Universität, und mit Karl Friedrich Reimers, der nicht nur gesagt hat, dass jemand wie ich im neuen Deutschland Professor werden kann, sondern dafür mit seinen Gutachten auch etwas tat. Anthony Giddens, ein britischer Soziologe, versteht Identität als kontinuierlich ablaufenden reflexiven Prozess, der uns permanent zwingt, alles, was passiert, in die Erzählung über uns selbst einzubauen.75 Identität ist die Geschichte, die wir von uns selbst haben und die ich hier aufschreiben darf. Diese Geschichte verändert sich, weil wir ständig neue Menschen treffen und Dinge erleben, die längst nicht immer zu dem passen, was wir bisher über uns dachten.
Die Kommunikationswissenschaft hat die DDR-Journalistik einfach abgestoßen – ihre Ideen genauso wie die Menschen, die diese Ideen entwickelt und vertreten haben. Was in Leipzig zwischen 1945 und 1990 gemacht wurde, gehört nicht zur Identität dieser Universitätsdisziplin. Hans Poerschke, Sigrid Hoyer, Wulf Skaun oder Wolfgang Tiedke haben keinen Platz in der Erzählung der Kommunikationswissenschaft über sich selbst. Sie haben auch keinen Platz in der DGPuK, in der Fachgesellschaft, in die man heute schon aufgenommen werden kann, wenn man einen 50-Prozent-Vertrag in einem Projekt mit zwölf Monaten Laufzeit unterschrieben hat. Vor 30 Jahren hat die DGPuK ein Jahr »hinter verschlossenen Türen« über Wolfgang Tiedke diskutiert – »bis er dann selbst gesagt hat, er finde das eigentlich nicht mehr angemessen«.76
Karl-Heinz Röhr, der Dompteur der Leipziger Veteranenrunden, war Professor für journalistische Methodik und sieht deshalb Michael Haller, der 1993 aus Hamburg kam und heute vorn sitzt, mit einem gewissen Recht als seinen Nachfolger. Auf eine Einladung an das Institut hat er all die Jahre vergeblich gewartet. Der Betrieb ging weiter, aber ihn gab es nicht mehr, nicht einmal im Verteiler für die Weihnachtsfeiern. 2008 kamen zwei Studentinnen mit einer Kamera zu Röhr und haben ihn zu seinem Leben befragt, aber das zählt nicht, weil dieser Besuch erstens denkbar schlecht vorbereitet war (ich weiß, wovon ich rede, weil ich das Video transkribiert habe) und zweitens von Siegfried Schmidt geschickt wurde, der als junger Mann genau wie Röhr Assistent von Hermann Budzislawski war, dem Gründungsvater der Leipziger Journalistik, dann aber das Glück hatte, nie für eine Parteifunktion ausgesucht worden zu sein. Schmidt durfte weitermachen und hat in seinen allerletzten Seminaren an der Universität Material für eine Geschichte der Journalistenausbildung in der DDR zusammengetragen, die er dann als Rentner nicht mehr geschrieben hat.77
Einmal noch haben Karl-Heinz Röhr und seine Weggefährten von früher auf Besserung gehofft, 2016 war das, 100 Jahre nach der Gründung des Instituts für Zeitungskunde durch Karl Bücher, die die Kommunikationswissenschaft in ihrer Erzählung über sich selbst im Moment für ihren Geburtstag hält. Zur Feier kam die DGPuK in die Stadt, 500 Kolleginnen und Kollegen. Festmenü in Auerbachs Keller, Festakt mit Ministerin Eva-Maria Stange und Rektorin Beate Schücking, Festvortrag von Bernhard Debatin. Dieser Philosoph hatte zwar in Westberlin studiert, war aber in den späten 1990er-Jahren für ein paar Jahre Dozent in Leipzig. Debatin sollte also wissen, wo er hier spricht. Die gut zwei Dutzend Menschen, die Karl-Heinz Röhr in den Hörsaal mitgebracht hatte, sind trotzdem enttäuscht nach Hause gegangen. ›Ihre‹ Zeit, immerhin fast die Hälfte der 100 Jahre, die hier gefeiert werden sollten, wurde in weniger als drei Minuten abgehandelt. Nationalsozialismus und DDR: Das war doch irgendwie dasselbe. Wissenschaft im »Dienst von Regierungsinteressen«. Bei Hermann Budzislawski, dem ersten Dekan der Fakultät für Journalistik, hat Bernhard Debatin »zwischen den Zeilen« immerhin »liberale Tendenzen« entdeckt und das auf sein US-Exil zurückgeführt. Dazu mehr im übernächsten Kapitel. Im Festvortrag von 2016 gab es noch einen Halbsatz zu den »ideologischen Hardlinern«, die Budzislawski folgten und ein Prosit auf die Abwicklung.78 Klarer konnte man das nicht sagen. Trollt euch, Röhr und Konsorten. Mit euch haben wir nichts am Hut.
Wie das so ist im Leben: ›Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch‹.79 Diese Kommunikationswissenschaft, die Elisabeth Noelle-Neumann huldigt, sich in kleinteiligen Studien zu Medienwirkungen verliert