Das Erbe sind wir. Michael Meyen
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Die beiden Mitbewohnerinnen aus Hoyerswerda sind dann doch nicht in Leipzig erschienen. Der Weg von der Schulbank an die Universität war im Wortsinn weit. Die Prüfung in Berlin, die Kohle, das Vorpraktikum. Die Redaktionen waren froh, wenn jemand das Handwerk beherrschte, und lockten mit festen Stellen. Der Westen lockte sowieso. Und die Genossen machten es niemandem leicht. Bevor das Studium im Herbst 1961 losging, musste Sigrid Mahlow zum Kartoffeleinsatz, nach Lebien, ein paar Kilometer südöstlich von Wittenberg. Die Junge Welt, Zeitung der Freien Deutschen Jugend, hatte gerade die Aktion »Blitz kontra NATO-Sender« gestartet. Losung: »Der Bonner Strauß darf in kein Haus! Alle sehen und hören die Sender des Sozialismus!«32 Der Spuk war zwar schon nach vier Tagen wieder vorbei, weil sich bei den Verantwortlichen in Berlin die Beschwerden stapelten über FDJ-Brigaden, die Antennen abrissen und Wohnungstüren beschmierten, an der Fakultät für Journalistik in Leipzig aber kam das offenbar nicht sofort an. Die Studenten, die gerade in Lebien Kartoffeln sammelten, sollten mit den Bauern diskutieren. Klassenbewusstsein zeigen, dem Klassenfeind offen ins Auge blicken und ihm klarmachen, dass es mit dem Westfernsehen vorbei ist. Dieser Klassenfeind war allerdings gar nicht so feindlich. Er ließ die Studenten bei seiner Familie wohnen und hat sie »vorzüglich versorgt«, nicht unwichtig in einem Land, in dem es immer noch Kartoffelkarten gab und Butter und Fleisch ad hoc rationiert werden konnten.
»Damals habe ich angefangen, mich zu fragen, ob ich das eigentlich will. So einfach bei Leuten klopfen, nicht einen Anlass abwarten und dann das Gespräch suchen, sondern agitieren. Damit hatte ich Probleme. Ich merkte, das kann ich nicht. Dazu kam die Sache mit der Partei.« Eigentlich war das keine ›Sache‹ für jemanden wie Sigrid Mahlow, die mit dem Freundschaftszug in die Sowjetunion fuhr, schon als Schülerin für die Parteizeitung schrieb und ohne zu zögern ihre Gesundheit einsetzte, wenn die Funktionäre selbst zierliche Mädchen in die Produktion schickten. Sie hatte schon in der elften Klasse einen Antrag gestellt, zum Geburtstag von Friedrich Engels. Warum nicht. Das Nein kam von ganz oben, von Karl Mewis, Bezirksparteichef in Rostock. Liebe junge Genossin in spe, verstehe bitte, dass wir im Moment nur Arbeiterkinder aufnehmen können. Der Vater dieser jungen Genossin verdiente sein Geld zwar als Betonfacharbeiter, aber das zählte nicht, weil in der Kartei »kaufmännischer Angestellter« stand, sein erster Beruf. Das war damals schon albern, hatte aber sehr konkrete Folgen. Weil sie kein Arbeiterkind war (zumindest nicht nach der offiziellen Definition), bekam Sigrid Mahlow zunächst weniger Stipendium und war finanziell erst gerettet, als ihr ein Leistungsstipendium bewilligt wurde.
Zurück nach Lebien, zurück in den großen Saal des Dorfgasthofs, wo sich die Erntehelfer von der Universität zur SED bekennen sollen. Sofort. Sigrid Hoyer erinnert sich an Thomas Nikolaou, Exilkommunist aus Griechenland und Assistent an der Fakultät für Journalistik, nur drei Jahre älter als sie, und sagt, dass dort »viel Vertrauen zerstört worden« sei. Ihre Erklärung, unterzeichnet am 4. Oktober 1961 mit einem roten Kugelschreiber, hat sie immer noch.
»Aussprachen und Auseinandersetzungen in unserem Kollektiv haben mir geholfen, die gegenwärtige Situation richtig zu verstehen und die entsprechenden Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Deshalb möchte ich mich mit Hilfe eines guten Genossen im Verlauf des ersten Studienjahres auf den Eintritt in die Partei vorbereiten«.
Das Ganze hat sich dann doch ein bisschen gezogen, bis 1965, bis zur letzten Versammlung vor dem Diplom. Dazwischen lagen gute Zeiten und schlechte Zeiten. In unserem Interview nimmt das mehr Platz ein, was genervt hat. Das Zeitungsstudium unter Aufsicht, vor allem nach Parteitagen oder Plenartagungen der SED-Spitze. Die Dokumente durcharbeiten, das Wichtigste unterstreichen, diskutieren. Eine FDJ-Versammlung, noch im Herbst 1961, bei der eine Studentin zur Rede gestellt wurde, die sich ihre Pfennigabsätze bei der Großmutter in Westberlin hatte reparieren lassen. »Sie hatte Blinddarmbeschwerden und krümmte sich vor Schmerzen«. Ein Seminar im Wilhelm-Wolf-Haus in der Tieckstraße, auch im ersten Studienjahr, alle um einen langen Tisch, »jeder konnte jedem in die Augen sehen, eigentlich wunderbar für Diskussionen«. Der Seminarleiter zielte aber auf ein Bekenntnis: Warum wollt ihr Journalisten werden? »Ich glaube, wir haben alle Ähnliches geantwortet. Land und Leute kennenlernen, Interviews führen, beobachten, schreiben. Er war fassungslos, weil niemand gesagt hat, er wolle Parteijournalist werden«.
Die Studentin Sigrid Mahlow ist einmal auch selbst in die Schusslinie der Erzieher geraten, sehr öffentlich, im Forum, einem Wochenblatt der FDJ, »Zeitung der Studenten und der jungen Intelligenz«. Der Artikel heißt Experiment mit Sigrid, eine ganze Seite am 22. März 1962. Das ›Experiment‹: Man hat Sigrid Mahlow in die FDJ-Leitung gewählt und sie, so schreibt es Frank Wimmer, der Vorsitzende, auf diese Weise zum »Vorbild für die gesamte Gruppe« gemacht. Fast noch erhellender ist das, was dieser kleine Funktionär über die Atmosphäre an der Fakultät für Journalistik berichtet. »Zuspätkommen« (vor allem bei den beiden »wöchentlichen Argumentationen«, registriert über eine Strichliste), »Stipendienabzug« für zwei notorische »Bummelanten«, »ewige Schweiger« wie Sigrid Mahlow und Hans-Dieter Hoyer, ihr späterer Ehemann, »Betrug in den Seminaren« (Russischnacherzählungen einfach vom Blatt abgelesen) und, man höre und staune, »ein Freund«, der »sein FDJ-Dokument« verloren hat.33 Es war selbst dann nicht leicht, bis zum Diplom durchzuhalten, wenn man die DDR mochte und der Westen keine Option war.
Sigrid Hoyer ist sogar an der Fakultät in Leipzig geblieben, als das Studium vorbei war, eine Art persönliches Experiment, das sie heute auch mit der Frauenquote erklärt und mit einem Praktikum in der Wirtschaftsredaktion bei der Ostsee-Zeitung in Rostock, wo sie unter einem »dogmatischen Abteilungsleiter« litt und unter den »vielen Vorgaben«. »Dort keimte vielleicht erstmals der Gedanke, es möge mir erspart bleiben, nach dem Studium in so eine Redaktion delegiert zu werden«. So ähnlich wird es auch mir viele Jahre später gehen. Vom ersten Studientag an haben wir überlegt, was die Redakteure denken mögen, die 1990 verkünden werden, dass das Wohnungsbauprogramm erfüllt ist. Jedem eine Wohnung, warm, trocken, sicher: So hatte es der VIII. Parteitag der SED 1971 versprochen. Im Herbst 1988 musste man blind durch Leipzig laufen, um daran noch zu glauben. Warum also nicht länger an der Universität bleiben, zumal die Medienblase im ganzen Land von Glasnost und Perestroika blubberte und schwer vorstellbar schien, dass all die aufgeregten Geister um mich herum alles beim Alten lassen würden, wenn sie erst ausgeschwärmt waren in die Schreibstuben von Wolgast bis Suhl.
Karl-Heinz Röhr, der Sigrid Hoyer bei ihrem Aufstieg zur Dozentur immer ein wenig schubste, wenn sie sich selbst noch nicht bereit fühlte, stützt den Eindruck, dass die Brutstätte für Journalistinnen und Journalisten in Leipzig in gewisser Weise vogelfrei war, wenn es denn so etwas in der DDR überhaupt geben konnte. »Die politische Linie der Partei«, na klar, die hatte jeder »im Kopf«, der dort lehrte. Dekan und Direktor wurden Politiker, nicht herausragende Wissenschaftler. Emil Dusiska, der Röhr als Parteisekretär sehen wollte, hatte im Apparat Karriere gemacht, bevor er mit Anfang 50 zum Akademiker mutierte, ohne Abitur oder sonst einen höheren Abschluss. Es gab in Leipzig Professoren wie Wolfgang Wittenbecher, noch so jemand ohne nennenswerte Publikation, die darauf drängten, »dass zu jedem Seminar Literatur von Marx und Lenin angegeben« wird, was schon deshalb schwierig war, weil sich die beiden Klassiker »nicht zu jeder Frage geäußert« hatten, zur Recherche zum Beispiel nicht oder dazu, »wie man eine Nachricht schreibt«. Karl-Heinz Röhr hat das alles erlebt und war selbst »einer der Privilegierten«, die hin und wieder zum Zentralkomitee der Partei fuhren. »Ich habe nie irgendwelche Anweisungen bekommen«, sagt er. »Die politische Atmosphäre war bei uns besser und freier als in den Redaktionen.