Das Erbe sind wir. Michael Meyen
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Wolfgang Tiedke (links) und Wulf Skaun bei der Verteidigung ihrer Dissertation am 16. Juli 1976. Quelle: Privatarchiv Wulf Skaun
Leipziger Journalistikdozenten, Ende der 1970er-Jahre: Wolfgang Böttger (ganz links), Wolfgang Wittenbecher (daneben, verdeckt), Emil Dusiska (mit dem Rücken zum Fotografen), Karl-Heinz Röhr, vermutlich Armin Hopf (Sächsisches Tageblatt), Peter Hamann, Siegfried Schmidt (mit Brille), Dieter Weihrauch (im dunklen Anzug), Hans Hüttl (hinter der rechten Schulter von Weihrauch), vermutlich Klaus Thielicke. Quelle: Privatarchiv Michael Meyen (Leihgabe von Karl-Heinz Röhr)
Hedwig Voegt, Hermann Budzislawski, Heinrich Bruhn (von links). Quelle: Privatarchiv Michael Meyen (Leihgabe Karl-Heinz Röhr)
Protestplakat, Ende 1990. Quelle: Privatarchiv Michael Meyen
Arnulf Kutsch bei einem Vortrag in München (2004). Foto: Christoph Hage
Karl Friedrich Reimers (2003). Foto: Michael Meyen
Werner Michaelis (stehend) mit Wolfgang Wittenbecher (links) und Emil Dusiska im Senatssaal der Universität in der Leipziger Ritterstraße. Quelle: Privatarchiv Werner Michaelis
4.WARUM DIE VERGANGENHEIT NICHT VERGEHT
Ein Podium, in dem alles drin ist – sogar die Ostsee-Zeitung
Heute werde ich entscheiden, dieses Buch zu schreiben. Es ist wieder Herbst in Leipzig, ein Novemberabend, kalt und nass, fast wie damals, vor 30 Jahren. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen und vor allem nicht zurückholen, was man damals gedacht und gefühlt hat, selbst wenn der Rahmen dafür so perfekt ist wie heute. Aber den Versuch ist es wert, für mich jedenfalls. Das Netzwerk Kritische Kommunikationswissenschaft hat, wie man so schön sagt, weder Zeit noch Mühe gescheut, um meine Geschichte in einem Raum zu versammeln. Natürlich: Es geht nicht um mich. Der Abend wird Hans Poerschke gehören, um den die Veranstalter bis zum letzten Moment zittern. Die Gesundheit. Poerschke wird 83. Er hört schon lange nicht mehr gut und mag sein Haus in Holzweißig nicht wirklich verlassen. Zur S-Bahn in Bitterfeld sind es fast drei Kilometer. Hans Poerschke hat seine Rede daheim am Computer vorbereitet, aber er traut seinem Körper nicht mehr. Wer weiß, was morgen sein wird.
Heute wird Hans Poerschke noch einmal in Leipzig gebraucht. Wer soll sonst sprechen, wenn es um den »Abriss des roten Klosters« geht, Untertitel: Wie die Leipziger Journalistenausbildung verwestlicht wurde. Es gibt niemanden, der Hans Poerschke auf diesem Podium ersetzen kann, auch Karl-Heinz Röhr nicht, anderthalb Jahre älter und trotzdem noch so fit, dass er dienstags zum Englischkurs ins Stadtzentrum fährt und hin und wieder sogar in die Red-Bull-Arena geht. Für das, was da geplant sei, schreibt Röhr eine Woche vorher, sei er »nicht der richtige Partner«.1
Röhr, der in diesem Buch noch eine Rolle spielen wird, war wie Poerschke Professor an der Sektion Journalistik. Beide sind fast parallel durch das Leben gegangen, Röhr immer diese anderthalb Schritte voraus auf dem weiten Weg von ganz unten. »Ich stamme aus ganz ärmlichen Verhältnissen«, sagt er. »Ein echter Proletarier«.2 »Zu Hause gab es nicht einmal einen ordentlichen Stuhl«.3 Bei Hans Poerschke klingt das ähnlich (»im wörtlichen Sinne aus einfachsten Verhältnissen«4), und auch sonst ist das mit der Parallele nicht einfach so dahingesagt. Die Mütter haben genäht, um die Familie durchzubringen, und die Väter waren nicht da, als die Jungs sie gebraucht hätten. Der eine, ein Schlosser im Braunkohlenwerk Borna, nahm sich 1936 das Leben, nachdem er arbeitslos geworden war und auch in Berlin nichts gefunden hatte, und der andere starb in jugoslawischer Gefangenschaft. Röhr wuchs bei einer Tante auf, einer Reinemachefrau in Borna, und Poerschke in einer »Laube in Friedrichsfelde«, ohne »Spielkameraden« und auch sonst so gut wie allein, da Mutter und Stiefvater in Schichten gearbeitet haben.5 Ohne die DDR, so lässt sich das zusammenfassen, wären Karl-Heinz Röhr und Hans Poerschke höchstwahrscheinlich nie an eine Universität gekommen und schon gar nicht auf eine Professur.
Trotzdem, schreibt Karl-Heinz Röhr. »In den entscheidenden Monaten« sei er ein Stück zu weit weg gewesen, in der Gewerkschaftsleitung der Universität, jenseits von »Lehre und Forschung«. Er habe »die diskriminierende Einladung zur Evaluierung« ausgeschlagen, »freiwillig gekündigt und Herrn Reimers mitgeteilt, dass wir auch eine akademische Ehre haben«. Karl Friedrich Reimers, Neugründer der Kommunikations- und Medienwissenschaft in Leipzig und wie Röhr 1935 geboren, ist an diesem Abend nicht da und doch sehr präsent. Er hat ein Interview mit sich führen lassen und das so breit wie möglich gestreut.6 Jeder soll wissen, dass der Titel dieser Veranstaltung ein Aberwitz ist und mindestens genauso unmöglich wie ein Podium ohne ihn. Ich werde den Text ein paar Wochen später im Büro in München finden und ihn sofort anrufen, weil Reimers für mich in gewisser Weise das ist, was die DDR für Karl-Heinz Röhr und Hans Poerschke war. Dazu gleich mehr.
Vorher ist noch zu erzählen, wo sich die Wege der beiden Leipziger Professoren getrennt haben. Karl-Heinz Röhr spricht von einem »Knick« in seiner Laufbahn, den niemand sieht, der die DDR nicht kennt. Ende der 1970er-Jahre war das, kurz nach der Habilitation, die damals Promotion B hieß und genau wie heute die Weichen stellte für die Berufung zum Professor. Röhr war ohnehin schon die Nummer 1 im Bereich journalistische Methodik, Emil Dusiska aber, der Sektionsdirektor, suchte jemanden, den er zum Parteisekretär machen konnte. Sein Argument: Du musst »erst Leitungserfahrung sammeln«, Genosse. Vermutlich wäre das auch ohne Argument gegangen. Wer sein Leben an die SED gebunden hatte wie Karl-Heinz Röhr, konnte bei so einem Vorschlag selbst dann nicht nein sagen, wenn er wusste, dass aus dem Direktor nicht die herrschende Klasse sprach, sondern nur der sehr persönliche Wunsch, einen Posten so schnell wie möglich zu besetzen.
Röhr wurde dann doch noch ordentlicher Professor, 1989, kurz vor Toresschluss, der »Knick« aber, das zeigte sich wenig später, hat ihn mehr gekostet als ein Jahrzehnt Funktionärsumleitung. Seine Fahrt war von einem Tag auf den anderen zu Ende, mit Mitte 50, in dem Alter, in dem ich jetzt bin und in dem ich fest damit rechne, dass das ›große Buch‹ noch kommt. Karl-Heinz Röhr ist damals zu den Klinkenputzern gewechselt. Anzeigenakquise, in einer Agentur, die einem seiner Studenten gehörte, und in einem Gebiet, in dem es nur Treuhandfirmen gab und damit so gut wie niemanden, der Geld für Werbung hatte. Er hat das eine Weile versucht und dann nach dem Strohhalm Frühverrentung gegriffen. Wer älter als 55 war, konnte bis Ende 1992 Altersübergangsgeld beantragen, 65 Prozent vom letzten Nettolohn. Ein Massenschicksal. Gut eine Million Fälle standen Anfang 1993 in der Statistik,7 eine Zahl, die viel größer ist als das, was wir uns normalerweise vorstellen können. Dass es an der Universität keinen Platz mehr für ihn geben würde, habe er »sofort« gewusst, sagt Karl-Heinz Röhr. »Ich war ja mal Parteisekretär. Das war ein Makel. Ich hätte bei der Evaluierung keine Chance gehabt. Die Westkollegen