Das Erbe sind wir. Michael Meyen
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Gerhard Gundermann zum Beispiel, Jahrgang 1955, wieder aus der Versenkung geholt von Filmregisseur Andreas Dresen,18 ahnte schon im April 1990, dass seine »Generation ein wenig übersprungen wird«. In der DDR von den Alten ausgebremst und jetzt ohne Chance gegen die Jungen (Unbelasteten) aus dem Osten und die Etablierten aus dem Westen. Noch ein wenig weiter im O-Ton dieses großen Künstlers: »Ich denke, irgendwann werden wir die bürgerliche Demokratie als Volk durchexerziert haben – als Kurzlehrgang. Es muss ja irgendwie weitergehen, und die Fragen, die die Welt heute stellt, sind nicht mehr alleine mit bürgerlicher Demokratie zu lösen«.19
Dresens Film über Gundermann erzählt, welchen Fragen er sich schon bald danach zu stellen hatte. Die Stasi. Überhaupt die DDR. Auch davon sprechen die Interviews in diesem Buch. Vom »Schuldsyndrom« (Stefan Körbel). Vom »Gefühl, sozusagen alles falsch gemacht zu haben. Das wird uns ja auch unentwegt signalisiert, und zwar von den Westdeutschen« (Edgar Harter). Von der Frage, warum man nicht ausgereist sei. Annekathrin Bürger spricht im September 1992 über die »vielen Kollegen«, die genau gewusst hätten, welche Chancen und welchen Film sie im Westen bekommen, wenn sie die DDR verlassen, und die jetzt so tun würden, als seien sie »politisch verfolgt« worden. Sie selbst werde sich deshalb nicht dafür entschuldigen, dass »ich nicht gegangen bin«.20 Diese Debatten werden die Deutschen jahrelang beschäftigen und gleich auch im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig wieder hochkochen.
Auf der Strecke geblieben sind neben den meisten Menschen, die in diesem Christoph-Links-Buch sprechen, Potenzial und viele der »tausend möglichen Antworten« (Gundermann21), die Wissenschaftler und Künstler der Gesellschaft vorschlagen. Man kann das leicht auf die Leipziger Journalistik übertragen, auf Karl-Heinz Röhr und Hans Poerschke, aber auch auf Sigrid Hoyer, die sich der Evaluation gestellt hat (»vielleicht war es Trotz, ich wollte mich nicht ducken«22), die Universität dann kurz verließ, obwohl sie grünes Licht bekam, aber zurückkehrte und noch gut anderthalb Jahrzehnte lehrte, gar nicht so viel anders als vorher in der DDR. Ihr Feld waren die Formen, die mehr sind als das Schwarzbrot, das die Zeitung nährt. Kolumne und Reportage, Essay, Feuilleton. Was sie in ihren Seminaren versucht hat, gleicht der Quadratur des Kreises. In meinen Worten: das kreative Element im Journalismus in eine Systematik pressen und damit so gefügig machen, dass auch der letzte Student nur ein wenig Mühe investieren muss, um als kleiner Kisch zu seinem Lokalblatt zurückzukehren. Viel Konkretes ist bei mir nicht mehr da 30 Jahre nach dem Studium, aber von Sigrid Hoyers Veranstaltungen zur ›Idee‹ habe ich später immer wieder erzählt, angemessen belustigt, damit meine Gesprächspartner mich nicht für verrückt hielten, aber auch mit dem Wissen, wie sehr mir das geholfen hat. Ja, eine ›Idee‹ lässt sich nicht erzwingen. Aber du kannst viel dafür tun, dass der Sprung von der Quantität (Recherche) zur Qualität (Originalität) wahrscheinlicher wird. Lesen vor allem, immer wieder lesen.
In der akademischen Journalistenausbildung gibt es nichts mehr, was an Sigrid Hoyer erinnert. Um eine Theorie oder eine bestimmte Art zu lehren und zu forschen dauerhaft an der Universität zu verankern, braucht man eine Professur. Ohne eine Professur hat man keine Schülerinnen und Schüler, die das in ihre Texte aufnehmen (müssen) und später weitertragen und feiern, was man selbst gedacht hat, und auch keine Ressourcen, die eigenen Gedanken aus dem Seminarraum hinauszutragen. Sigrid Hoyer hatte ihre Dissertation B fertig, als die Mauer fiel.23 Alles zwischen zwei Buchdeckeln, was sie zur ›Idee‹ im Journalismus zu sagen hatte, gestützt auf »Dutzende Jahres- und Diplomarbeiten«, auf unendlich viele Werkstattgespräche in den Redaktionen und auf das, was sich außerhalb der Journalistik zum Thema finden ließ.24 Werner Gilde zum Beispiel, Direktor des Instituts für Schweißtechnik (!) in Halle, ein Patentjäger, der wissenschaftliche Durchbrüche für planbar hielt.25 Hans-Georg und Gerlinde Mehlhorn, zwei Bildungsforscher, die dann Anfang der 1990er-Jahre in Leipzig ein Kreativitätszentrum gegründet haben, das mir und meiner Tochter Juliane viele Nachmittage und Abende versüßt hat. Und vor allem Franz Loeser, Ethik-Professor an der Humboldt-Universität, der Sigrid Hoyer in zwei Punkten bestärkte. Grundlagenforschung muss nicht anwendbar sein. Und: Es ist nicht nur möglich, Kreativität und Schöpfertum auf die Spur zu kommen, sondern mehr als wünschenswert. Eine ›Krönung‹ wissenschaftlicher Arbeit. Sigrid Hoyer hat ihre Dissertation B im August 1989 abgegeben. Das Verfahren wurde am 8. November eröffnet. Am nächsten Tag war nichts mehr wie vorher.
Sigrid Hoyer hat den Brief noch, den Karl-Heinz Röhr im Januar 1990 an das Dekanat schickte, um eine Kollegin zu retten, die auch sein Schützling war. »Er bat darum, mir eine Nacharbeit zu ermöglichen, machte dafür auch Vorschläge und bot mir Rat und Hilfe an. Er versuchte damit, zumindest nicht hinzunehmen, was eigentlich längst unabänderlich schien«, schon jetzt, fast ein Jahr vor dem Abwicklungsbeschluss. Sigrid Hoyer konnte ihre Arbeit nicht umschreiben. Sie wollte das auch nicht. Was sie sich bis heute wünscht: dass man ihr erlaubt hätte, die Arbeit zu verteidigen. Lasst uns doch schauen, ob das einen ›wissenschaftlichen Wert‹ hat, ganz unabhängig von allen politischen Systemen. »In der DDR haben wir Meinungspluralismus eingefordert«, sagt sie heute. »Gilt das nicht auch für die Wissenschaft, habe ich mich damals gefragt«. Günther Wartenberg, ein Theologe, drei Jahre jünger als Sigrid Hoyer, wie sie in den 1960ern in Leipzig Student und ab 1991 Prorektor für Forschung und Lehre, hat da nur mit den Schultern gezuckt. An dieser Universität, eine solche Arbeit?
Man kann es sich leicht machen und sagen: So war das eben damals. Wenn Melanie Malczok, die heute Abend als Moderatorin zwischen Michael Haller und Hans Poerschke, Heike Schüler und Horst Pöttker sitzt, nachher zum ersten Mal ins Publikum schaut, wird der Finger von Reinhard Bohse nach oben schnellen, nicht viel anders als im ersten Nachwendejahrzehnt, in dem Bohse Pressesprecher der Stadt war und allgegenwärtig, wenn es um die Vergangenheit ging. »Eine Sauerei«, wird Bohse heute sagen. Die Stasi. Dieses brutale System, dass die Massen »hinweggefegt« haben. Die Leute, »die wirklich gelitten haben, die in den Knast gekommen sind, denen man die Freiheit geraubt hat. Daran waren die Propagandisten beteiligt, die hier in Leipzig gelernt haben«. Reinhard Bohse weiß den hegemonialen DDR-Diskurs hinter sich. Er war 1989 dabei, als in Leipzig das Neue Forum gegründet wurde, und gehört seitdem zu den Guten. Mein Herz wird wie immer schneller schlagen, wenn ich diese Mauer aus Moral und Selbstgerechtigkeit sehe, an der meine Biografie zerschellt. In den nächsten Tagen, wieder mit Normalpuls, werde ich allen zustimmen, die Bohse loben – vor allem denen, die zu jung sind, um schon erlebt zu haben, wie Ostdeutsche um die Vergangenheit kämpfen. Ja, ohne diesen Beitrag wäre diese Veranstaltung nicht rund gewesen. Ohne diesen Beitrag kann man nicht verstehen, warum Sigrid Hoyer mit ihrer Dissertation B nicht einmal durchfallen durfte.
Über die Evaluierung mag Sigrid Hoyer nicht wirklich sprechen. Zu viele schlechte Erinnerungen, obwohl das für sie gut ausgegangen ist, auf den ersten Blick zumindest. Die Wunden sieht man nicht. Kolleginnen und Kollegen, die hinter dem Rücken tuscheln. Die Gründungskommission, na klar. Da weiß doch jeder, warum sie bleiben darf. Die Ungewissheit, die schon der Papierberg mit sich bringt, der jetzt beweisen soll, dass man überhaupt für den Job geeignet ist, für den man seit zweieinhalb Jahrzehnten bezahlt wird. Publikationen, Mitgliedschaften und Funktionen, Auszeichnungen, Stasi-Erklärung. Auf Karl Friedrich Reimers,