Das Erbe sind wir. Michael Meyen

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Das Erbe sind wir - Michael Meyen

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seit Dezember 1989 Verleger, hat gerade einen Schatz ausgegraben – mehr als 30 Gespräche mit ostdeutschen Liedermachern und Kabarettisten, geführt in den frühen 1990ern und jetzt gedruckt. Man sieht dort, dass das, was wir heute diskutieren, schon lange gärt und nur verschüttet war, vielleicht vom Erfolgsrausch, in den sich der Kapitalismus 1989/90 hineingetaumelt hat, vielleicht von dem Stress, den all das den Deutschen beschert hat, auf jeden Fall aber durch das Verstummen der Stimmen, die in diesen frühen Einheitsjahren noch kräftig sind. In den Interviews geht es um den Rechtsruck im Osten und um Neonazis, um Umwelt und Klima, um »die ungeheuer große Ausbeutung« des globalen Südens (bei Gerd Eggers und Udo Magister noch die »dritte Welt«) und um eine Gesellschaft, die auch deshalb auf den Abgrund zurast, weil ihre Logik will, »dass einer etwas für sich auf Kosten der anderen erreicht« (Norbert Bischoff).17 Alles schon da vor 30 Jahren. Alles als Problem erkannt – von Menschen allerdings, die gerade ihre privilegierte Sprecherposition verloren hatten und in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit nie wieder so prominent sein werden wie in der DDR.

      Sigrid Hoyer hat den Brief noch, den Karl-Heinz Röhr im Januar 1990 an das Dekanat schickte, um eine Kollegin zu retten, die auch sein Schützling war. »Er bat darum, mir eine Nacharbeit zu ermöglichen, machte dafür auch Vorschläge und bot mir Rat und Hilfe an. Er versuchte damit, zumindest nicht hinzunehmen, was eigentlich längst unabänderlich schien«, schon jetzt, fast ein Jahr vor dem Abwicklungsbeschluss. Sigrid Hoyer konnte ihre Arbeit nicht umschreiben. Sie wollte das auch nicht. Was sie sich bis heute wünscht: dass man ihr erlaubt hätte, die Arbeit zu verteidigen. Lasst uns doch schauen, ob das einen ›wissenschaftlichen Wert‹ hat, ganz unabhängig von allen politischen Systemen. »In der DDR haben wir Meinungspluralismus eingefordert«, sagt sie heute. »Gilt das nicht auch für die Wissenschaft, habe ich mich damals gefragt«. Günther Wartenberg, ein Theologe, drei Jahre jünger als Sigrid Hoyer, wie sie in den 1960ern in Leipzig Student und ab 1991 Prorektor für Forschung und Lehre, hat da nur mit den Schultern gezuckt. An dieser Universität, eine solche Arbeit?

      Man kann es sich leicht machen und sagen: So war das eben damals. Wenn Melanie Malczok, die heute Abend als Moderatorin zwischen Michael Haller und Hans Poerschke, Heike Schüler und Horst Pöttker sitzt, nachher zum ersten Mal ins Publikum schaut, wird der Finger von Reinhard Bohse nach oben schnellen, nicht viel anders als im ersten Nachwendejahrzehnt, in dem Bohse Pressesprecher der Stadt war und allgegenwärtig, wenn es um die Vergangenheit ging. »Eine Sauerei«, wird Bohse heute sagen. Die Stasi. Dieses brutale System, dass die Massen »hinweggefegt« haben. Die Leute, »die wirklich gelitten haben, die in den Knast gekommen sind, denen man die Freiheit geraubt hat. Daran waren die Propagandisten beteiligt, die hier in Leipzig gelernt haben«. Reinhard Bohse weiß den hegemonialen DDR-Diskurs hinter sich. Er war 1989 dabei, als in Leipzig das Neue Forum gegründet wurde, und gehört seitdem zu den Guten. Mein Herz wird wie immer schneller schlagen, wenn ich diese Mauer aus Moral und Selbstgerechtigkeit sehe, an der meine Biografie zerschellt. In den nächsten Tagen, wieder mit Normalpuls, werde ich allen zustimmen, die Bohse loben – vor allem denen, die zu jung sind, um schon erlebt zu haben, wie Ostdeutsche um die Vergangenheit kämpfen. Ja, ohne diesen Beitrag wäre diese Veranstaltung nicht rund gewesen. Ohne diesen Beitrag kann man nicht verstehen, warum Sigrid Hoyer mit ihrer Dissertation B nicht einmal durchfallen durfte.

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