Das Erbe sind wir. Michael Meyen
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Reimers wird mir ein paar Wochen später am Telefon von ihren gemeinsamen Spaziergängen durch Leipzig erzählen, von einer Attacke der Bild-Zeitung (Tenor: Münchner Professor rettet den roten Poerschke) und davon, wie er bei Minister Meyer und Ministerpräsident Kurt Biedenkopf ein Jahr ›Sabbatical‹ für Hans Poerschke erkämpft hat. Das sei eine Frage des »Anstands« gewesen und eine »Charakterfrage«, sagt Reimers. Poerschke habe Zeit gebraucht, auch in der Bibliothek, »um sich mit seiner Linie entfalten zu können«. Der Ministerpräsident, der in meinem Ohr fast zu einem alten Kumpel von Reimers schrumpft, habe das zwar für »Luxus« gehalten und der Minister für etwas, das er, der Katholik Hans Joachim Meyer, in der Poerschke-DDR nie bekommen hätte, am Ende aber sei ihm, Reimers, dieser Wunsch vom »Imperium« Biedenkopf-Meyer gewährt worden, als »persönliches Entgegenkommen«.10
Von Bayern aus gesehen ist das alles ganz einfach, immer noch. Hans Poerschke hat da eine große Chance gehabt, auf dem Silbertablett serviert sozusagen von einem verständnisvollen und einfühlsamen Bruder aus dem Westen, gegen den Widerstand der Machtmenschen, die jetzt das Kommando hatten, und er hat diese Chance nicht genutzt, genau wie Bernd Okun, noch so ein Liebling meiner Studentengeneration. Poerschke wird heute Abend sagen, dass ihm damals »die Gelassenheit« gefehlt habe, »die man braucht, um Abstand zu finden«. Er habe zwar »nie wieder so viel gelesen wie in diesem Jahr«, aber »ich wollte mich nicht einfach auf den Schoß von Onkel Niklas setzen oder von Onkel Jürgen oder von Onkel Karl«. Luhmann, Habermas, Popper. »Die waren ja frisch im Angebot, und die Studenten waren zum guten Teil begeistert. Ich habe gemerkt, dass ich dort keine Erklärung finde, die für mich akzeptabel ist. Damit hatte sich jeder Wunsch erledigt, weiterzumachen als wäre nichts gewesen. Ich habe mich nicht beworben aus gutem Grund«.11
Wie Karl-Heinz Röhr hat auch Hans Poerschke das Altersübergangsgeld genommen, fünf Jahre lang. »Heute glaubt keiner mehr, dass es so etwas gegeben hat«, sagt er. »Eine Form der Arbeitslosigkeit, bei der man ordentliches Geld bekam und nicht vermittelt werden musste«.12 Das Publikum im Zeitgeschichtlichen Forum wird ihm nachher an den Lippen hängen, wenn er erzählt, wie er seitdem mit seinem Lenin gerungen hat. Jeder spürt: Dieser Kampf ist noch nicht vorbei. Hans Poerschke sagt, dass er »zum Untergang der DDR« beigetragen hat, und will deshalb wissen, wie es dazu kommen konnte, selbst wenn es nur ihn allein interessieren sollte und wenn das Grübeln alle vergrault, die er von früher kennt. Wie konnte er zur »Spinne im Netz« werden, zu dem Professor, der in Leipzig »die Theorie des Journalismus« vertreten hat, »das Ideologischste vom Ideologischen«, und dabei auch rechtfertigen konnte, dass die Medien den Menschen nur die Welt zeigten, die die »damals Herrschenden« dort sehen wollten?13
Karl-Heinz Röhr hat seinen Frieden auf dem Land gefunden, in einem Häuschen, das er Datsche nennt und das ihn, den gelernten Bergmaschinenmann, noch einmal zum Handwerker werden ließ. Heute wohnt er wieder in Leipzig, nicht weit weg von den beiden Kindern und ihren Familien. Wenn der Computer streikt, kommt ein Enkel. Dass ich das hier erwähne, sagt viel über den deutschen Osten. Meine Tochter arbeitet in Stuttgart und mein Sohn in München. Wie oft sehen sie da ihre Großeltern auf Rügen und in Flöha? Wie oft würde die Omi an der Ostsee etwas von ihrem Enkel hören ohne WhatsApp, wo er ihr das schickt, was er für den Zündfunk macht, ein Radiomagazin beim Bayerischen Rundfunk, obwohl er weiß, dass sie so eine Datei ohne ihn nur mit Mühe öffnen kann? Wer alt ist, hat überall auf der Welt »viel Vergangenheit und wenig Zukunft«.14 In Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen aber wird das eine (die Vergangenheit) noch größer und das andere (die Zukunft) noch kleiner, weil die, die trösten könnten, oft weit weg sind. Im Westen. Da, wo die Arbeit ist.
WAS VOR 30 JAHREN VERLOREN GEGANGEN IST
Wenn man so will, ist Karl-Heinz Röhr heute die ›Spinne im Netz‹. Er hält gleich zwei Veteranenrunden zusammen: die Leipziger Journalisten und die, die mit ihm an der Sektion Journalistik gearbeitet haben. Gastvorträge, die Weihnachtsfeier, Beerdigungen. Einer muss dafür sorgen, dass die anderen Bescheid wissen und dann auch erscheinen, obwohl die Lust, die Wohnung zu verlassen, mit dem Alter nicht größer wird. Karl-Heinz Röhr hat auch an diesem Abend dafür gesorgt, dass viele der Ehemaligen gekommen sind, um Hans Poerschke zu hören. Selbst Sigrid Hoyer ist da, die solche Begegnungen sonst meidet, weil sie den Neid nicht mag, den sie in den Gesichtern einiger Kollegen von früher zu sehen glaubt, und weil sie nicht vergessen hat, was manche gesagt haben, als sie bleiben durfte und andere nicht. »Karl-Heinz zuliebe«, sagt sie, »und auch wegen Hans«.
Sigrid Hoyer hätte heute Abend durchaus vorn sitzen können, neben Michael Haller, einem Professor aus Hamburg, der gut ein Jahrzehnt ihr Chef war, neben Horst Pöttker, den die evangelische Kirche Anfang der 1990er-Jahre für ein paar Jahre nach Leipzig geschickt hat, der dann aber einen Lehrstuhl in Dortmund vorzog, und neben Heike Schüler, im Herbst 1989 immatrikuliert und heute Reporterin der Abendschau beim RBB. Eine Frau mehr auf dem Podium, dazu noch jemand, der nicht Professorin war und beide Systeme kennt: Das hätte vielleicht auch die beruhigt, die schon vorher wussten, dass heute Abend nur das herauskommen kann, was immer rauskommt, wenn man die sprechen lässt, die auch sonst das Sagen haben. Westdeutsche, Männer, Professoren.
Sigrid Hoyer war in der Gründungskommission der Leipziger Kommunikations- und Medienwissenschaft, gewählt von den Kolleginnen und Kollegen, und damit sozusagen live dabei, als Karl Friedrich Reimers das Realität werden ließ, was er sich in München zurechtgelegt hatte. Sie hat selbst einen Reformplan ausgearbeitet, sehr früh schon, im Januar 1990, in einer ›Alternativgruppe‹, ohne Professoren, aber mit Uwe Madel und Andreas Rook, die mit mir im Herbst 1988 zum Studium nach Leipzig gekommen waren. Dieses Papier wirkt auch nach 30 Jahren taufrisch. Gleich auf der ersten Seite stehen die Wörter ›Chance‹ und ›Hoffnung‹. Wann, wenn nicht jetzt. »Nach einer neuen, sozial und ökologisch progressiven Lebensweise« suchen, »die weniger extensiv Ressourcen beansprucht und mehr wirklichen Raum für die freie, universelle Entwicklung der Individuen schafft«. Die DDR erneuern (okay, das hat sich inzwischen erledigt) und sich dabei beteiligen an der »globalen Suche nach einer neuen Entwicklungslogik der menschlichen Gesellschaft«.15
Die Diagnose könnte ich immer noch unterschreiben, aber die Euphorie von damals ist weg. Man muss in die Archive gehen und in die Details, um zu verstehen, was verloren gegangen ist in einem Prozess, der von Westdeutschen gestaltet wurde, die sich gerade eingerichtet hatten in ihrer Bundesrepublik und sich nicht viel mehr vorstellen konnten als das, was ihnen ohnehin schon ganz gut gefiel. Ein bisschen Kosmetik vielleicht oder, das hat Karl Friedrich Reimers mit der Leipziger Journalistik gemacht, etwas ausprobieren, was ›drüben‹ nicht ging, weil gewachsene Strukturen wehrhaft sind. Die ›Alternativgruppe‹ um Hoyer, Madel, Rook hat größer gedacht. ›Out of the box‹, würde man heute sagen. Ihr Papier fordert eine »umfassende demokratische Öffentlichkeit« und schlägt vor, damit am besten gleich an der Universität anzufangen. Studenten, die ihr Studium selbst organisieren, dabei nur einen minimalen ›Pflichtanteil‹ haben, von Anfang an gleichberechtigt in die Forschung einbezogen werden und in den journalistischen Übungen »druckfähige Manuskripte« produzieren.16 Bekommen haben wir Bologna. Stunden- und Semesterpläne, Klausuren mit Antwortvorgaben und Kästchen zum Ankreuzen, Hausarbeiten, bei denen die Plagiatssoftware wichtiger ist als die Dozentin. Wenig Selbstbestimmung und viel Schule.