Das Erbe sind wir. Michael Meyen
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Was die Leipziger relativ früh wussten: Drüben war man neidisch auf das, was im Hochhaus am Karl-Marx-Platz möglich war. Elisabeth Noelle-Neumann, Gründerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach und eine Art Übermutter der westdeutschen Fachgemeinschaft, war vor allem vom ›Übungssystem‹ begeistert, als sie 1973 oder 1974 für eine Tagung in die Stadt kam (sie war zweimal da und es ist nicht ganz klar, wann sie das gesagt hat) und von Stilistik-Professor Werner Michaelis jeden Tag mit dem Trabant vom Hotel abgeholt wurde. »Sie meinte, so etwas würde sie in Mainz auch gern machen. Ihr würden aber die Lehrkräfte fehlen«. Michaelis wurde zu einem Gegenbesuch in den Westen eingeladen, von Noelle-Neumann »sehr zuvorkommend in ihrer Wohnung empfangen« (»sie hatte Pasteten gebacken«) und 1978 bei einer Tagung in Warschau von ihr verteidigt, als ihm der Diskussionsleiter aus Polen das Wort abschneiden wollte. Werner Michaelis erinnert sich auch an einen Kollegen aus Münster, der bei ihm »Lehrmaterial abgeholt« hat,48 und als ich im April 1990 zum ersten Mal in der Dortmunder Institutsbibliothek stand, lagen dort auch die Lehrhefte aus Leipzig.
Werner Michaelis hat es sogar in die Autobiografie von Elisabeth Noelle-Neumann geschafft, allerdings ohne Trabant und ohne Pasteten. Wenn man es genau nimmt: Eigentlich kommt er in diesem Buch von 2006 nur als Echo vor und steht nicht einmal im Personenregister. In der Episode, die Noelle-Neumann dort aus den Tagen der Studentenbewegung schildert, fragt sie »ganz unschuldig in die Runde« ihrer Mainzer Vorlesung, ob denn »der Professor Michaelis« damals schon in Leipzig gewesen sei – und »das halbe Auditorium« ›weiß‹ die Antwort (»Nein, der kam erst später«). Das Wort ›weiß‹ habe ich in Anführungszeichen gesetzt, weil die Geschichte vorne und hinten nicht stimmt, denn Werner Michaelis hat schon 1953 angefangen, künftigen Journalisten Deutsch beizubringen, ein Jahr vor der Gründung der Leipziger Fakultät. Noelle-Neumann geht es aber ohnehin nicht um historische Wahrheit, sondern um eine Pointe, einen Beleg für ihre Dauerfehde mit Marxisten und einen Beweis für ihre porentief reine antikommunistische Gesinnung. Der Name Michaelis muss für die These herhalten, dass die Proteste der Mainzer Studenten gegen Noelle-Neumann, die in einer Institutsbesetzung gipfelten, aus der DDR gesteuert waren, von eingeschleusten Provokateuren. Erkannt hat sie das »kurioserweise immer an ihrem Haarschnitt«. Lange Haare als Markenzeichen der Westlinken und ein kurzer Schnitt, »wenn sie von ihren Besuchen in der DDR zurückkamen«.49
Warum ich das hier erzähle? Elisabeth Noelle-Neumann war sehr dagegen, dass es mit der Leipziger Journalistik nach der Abwicklung weitergeht, und sie war, das habe ich erwähnt, nicht irgendwer in diesem wissenschaftlichen Feld. Steffen Grimberg, der Absolvent aus Dortmund, kann im Zeitgeschichtlichen Forum als Zeitzeuge sprechen, weil er im März 1990 nach Leipzig kam, um eine Studienarbeit zu schreiben über den Wandel an der Sektion Journalistik und in den DDR-Medien überhaupt. Er kann sich »erinnern, dass uns der letzte Parteisekretär die Schulungshefte übergab, mit den schönen Worten: Bitte betreiben sie keine Leichenfledderei«. Er weiß auch, dass es bei der Neugründung »tatsächlich auch um Machtfragen« ging und warum Günther Rager, sein Professor daheim im Pott, nie und nimmer als Leipziger Dekan in Frage kam, obwohl Dortmund »der geborene Partner« gewesen sei, »auch für die Evaluation in Leipzig«. Die Wahlen, sagt Steffen Grimberg. Erst die Volkskammer am 18. März und dann der sächsische Landtag am 14. Oktober 1990. Schwarz, ohne Wenn und Aber und damit auch ohne Günther Rager aus dem ›roten Dortmund‹ (Steffen Grimberg sagt die Anführungszeichen in Leipzig sicherheitshalber mit) und aus einem Bundesland mit SPD-Regierung. »Dann kam eben Reimers von der HFF in München«.50
An der Hochschule für Fernsehen und Film war die Kommunikationswissenschaft ein Fremdkörper. Dieses Haus ist stolz auf Regisseure, Kameraleute, Produzenten. In solchen Jobs muss man nicht wissen, wie Medienwirkungen untersucht werden. Die Kommunikationswissenschaft ist ein Erbe der Gründungsgeschichte. Otto B. Roegele, im Hauptamt Professor an der LMU München, war von der Landesregierung als erster Präsident der Hochschule auserkoren worden und brauchte irgendeinen Anker, um das nach außen verkaufen zu können. Den HFF-Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft bekam 1975 Karl Friedrich Reimers, der sich vorher als Filmforscher einen Namen gemacht hatte. In München ›passte‹ das, wie der Bayer so schön sagt. Von der ›Mainzer Schule‹ aber, die (Elisabeth Noelle-Neumann sei Dank) den großen Rest der Kommunikationswissenschaft infiltriert hatte, war Karl Friedrich Reimers genauso weit entfernt wie von der Leipziger Journalistik.
Vorn auf dem Podium im Zeitgeschichtlichen Forum wird das, was Steffen Grimberg »Machtfragen« genannt hat, heute nicht viel konkreter. Michael Haller, der letzte Chef von Sigrid Hoyer, spricht von einer »eher neoliberal geprägten Wissenschaftscommunity mit einer ausgeprägten Abwehr gegenüber allem, was aus der ehemaligen DDR kam«, und Horst Pöttker, halb Journalist, halb Wissenschaftler, von einer »konservativen und wenig liberalen Riege«. Beide haben vor 20 Jahren ein kleines Beben ausgelöst in dieser Riege, mit einem Beitrag über die NS-Vergangenheit der Kommunikationswissenschaft, erschienen im Aviso, dem Mitteilungsblatt der ›Wissenschaftscommunity‹, Pöttker als Autor und Haller als Redakteur. Überschrift: Mitgemacht, weitergemacht, zugemacht. Eine Attacke gegen Elisabeth Noelle-Neumann, die 1937 mit einem DAAD-Stipendium in die USA fuhr, 1940 in Berlin promovierte und dann für Das Reich schrieb, das Wochenblatt von Goebbels.51 Pöttker im O-Ton von 2001: eine »Schreibtischtäterin« (von mir gegendert, sorry), die »markante Teile der NS-Ideologie« an Zeitungsleser vermittelte, später als Professorin in der Bundesrepublik »eine konsequente Personalpolitik im Sinne ihrer Positionen betrieb« und das »eigene Mitmachen« in »Distanz, ja Widerstand« umdeutete.52
Ich habe das selbst erlebt, an einem heißen Frühsommertag 1999 in Allensbach, wo ich Elisabeth Noelle-Neumann, längst über 80, zur Umfrageforschung in den 1950ern interviewen wollte.53 Bevor wir zur Sache kommen konnten, hat sie sich eine halbe Stunde von Vorwürfen entlastet, die mich, ein Kind der DDR und immer noch nicht vertraut mit den westdeutschen Kämpfen, bis dahin gar erreicht hatten. Selbst im Grab lässt dieses Thema Noelle-Neumann nicht ruhen. Ihre Wahlverwandten haben eine Biografie vom Markt geklagt, die Gobbels, Allensbach und Mainz in einer fulminanten Erzählung zusammenführte, und dabei auch Rezensionen löschen lassen und Jörg Becker, den Autor, persönlich angegriffen – einen Mann, der als »Kommunistenfreund« galt und auch deshalb nie auf eine Professur berufen worden war.54
Pöttker und Haller haben viel Prügel einstecken müssen für die Attacke von 2001.55 Vielleicht verzichten sie deshalb heute Abend darauf, auf dem Podium Ross und Reiter zu nennen. Der Name Noelle-Neumann fällt überhaupt nur einmal, in die Runde geworfen von Manfred Knoche, Medienökonom aus Salzburg, Jahrgang 1941, der sich immer noch sicher ist, dass er Anfang der 1990er-Jahre in Leipzig einen Lehrstuhl verdient gehabt hätte und dafür seine Studienzeit in Mainz ins Feld führt, direkt an der Quelle der Macht. Man muss dazu wissen, dass Knoche an diesem Institut einer der Köpfe der Studentenbewegung war (damals wie heute mit langen Haaren, Selbstbild: »antiautoritärer Idealist«), 1972 an die FU Berlin floh und dort zum Jünger von Karl Marx wurde.56 Sein Groll gilt nicht nur Noelle-Neumann und ihrer ›Riege‹, sondern auch Karl Friedrich Reimers, dem Gründungsdekan aus München, aus dem Knoche im Zeitgeschichtlichen Forum eine Art Alleinherrscher macht, der in Leipzig nur deshalb keine Professur für Medienökonomie schuf, weil er ganz genau wusste, dass dafür nur einer in Frage gekommen wäre – er, der Marxist Manfred Knoche. »Ein ganz eigenartiger Typ, der mit Publizistik- und Kommunikationswissenschaft überhaupt nichts zu tun hatte. Seine einzige Qualität war, dass er aus Bayern kam und konservativ war, und zwar erzkonservativ«.
Es ist »viel Blödsinn« geredet worden bei dieser Veranstaltung, wird mir Karl Friedrich Reimers ein paar Wochen später am Telefon sagen. Das Video ist da schon auf YouTube, aber ich bin mir nicht sicher, ob Reimers sich damit auskennt. Man kann ihn nach wie vor nur per Brief erreichen oder eben anrufen. Jemand wie Reimers muss sich ohnehin nicht zwei Stunden Amateur-Film antun, bei dem man Sprecher und Kulisse nur mit Mühe erkennt. Wer einen Riesenladen wie das Leipziger Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft aus dem Boden stampft, hat auch ein Vierteljahrhundert später genug loyale Zeugen vor Ort. Reimers geht es auch gar nicht um Manfred Knoche. Wer weiß, ob er davon überhaupt schon gehört hat. Er will