Das Erbe sind wir. Michael Meyen
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Das stimmt, mein lieber Karl Friedrich Reimers, und stimmt doch nicht. Das klitzekleine Puzzleteil der deutschen Einheit, um das es hier geht, zeigt wie in einem Brennglas, dass selbst beste Absichten wenig auszurichten vermögen gegen gesellschaftliche Strukturen. Uwe Schimank, ein Soziologe, erklärt, warum nirgendwo das herauskommen kann, was ein Einzelner anstrebt. Immer handeln viele gleichzeitig und wollen jeweils etwas anderes. Sie beobachten sich dabei, reden miteinander, senden Signale. Dazu kommt das, was Schimank Erwartungsund Deutungsstrukturen nennt. Wie sehen wir die Welt, was erwarten andere von uns, was nehmen wir davon wie wahr und was macht das alles mit unseren Plänen, mit unserer Strategie, mit unserer Taktik?58
Karl Friedrich Reimers erzählt mir von der Aggressivität, auf die seinerzeit die Entscheidung stieß, die Sektion Journalistik irgendwie weiterleben zu lassen – nicht nur bei den Gefolgsleuten von Elisabeth Noelle-Neumann oder in der Bild-Zeitung, die ihn als Retter des ›roten Poerschke‹ verunglimpfte, sondern auch an der Universität Leipzig. Selbst einige Journalistikstudenten hätten gegen ihre alten Professoren gehetzt. Ich könnte hier Bürgerbewegte wie Reinhard Bohse ergänzen und all das ganz folgerichtig nennen, was es heute an diesem Standort gibt – ein großes Institut mit Medienpädagogik und Buchwissenschaft, mit Forschungsmethoden und PR. Man kann dort sogar einen ›Master of Science‹ belegen, der Journalismus heißt, aber der Name ist eine Mogelpackung. Gebacken wird hier ein ganz neuer Typ Medienforscher. Die Zutaten: an der Universität ein Drittel Informatik, ein Drittel Sozialwissenschaft und ein Drittel Praxis sowie ein Volontariat, am besten in der Region. Ich kenne die Kolleginnen und Kollegen, die sich das ausgedacht haben. Der Journalismus ist den meisten von ihnen egal. Sie brauchen Studenten, mit denen sie forschen können, und zwar so, dass man die Befunde in den USA präsentieren kann, wo die Medienforschung fest in der Hand von Menschen ist, die die Naturwissenschaften für das Nonplusultra halten.59 Messen, zählen, rechnen. Deshalb die Informatik, deshalb viel zu Erhebungsverfahren und Datenanalyse.
Kein Zweifel: Karl Friedrich Reimers hat in Leipzig mit aller Macht versucht, etwas zu schaffen, was er persönlich für innovativ halten musste.60 Kein Aufguss der ›Mainzer Schule‹, sondern ein ganz neues Haus, in dem alle leben können, die irgendwie zu Medien forschen, und in dem für ein paar Jahre sogar Platz war für Menschen, die etwas machten, was manche Mitbewohner für museumsreif hielten. Andreas Rook, der mit mir 1988 als Student nach Leipzig kam, Anfang 1990 mit Sigrid Hoyer in der »Alternativgruppe« an einem Studienprogramm schrieb und schließlich ›unser‹ Mann in der Gründungskommission wurde, erinnert sich, wie Reimers bei Berufungen an den Stellschrauben gedreht hat. Wenn jemand »aus dem Stall von Noelle-Neumann« kam, dann sei das klar benannt worden. Zugleich habe der Gründungsdekan wieder und wieder darauf gedrängt, nicht die Publikationsliste zum wichtigsten Kriterium zu machen. »Dann haben die DDR-Wissenschaftler keine Chance«.61
Wenn sich Karl Friedrich Reimers heute an seine Spaziergänge mit Hans Poerschke erinnert, dann sagt er immer noch »unsere Pläne« zu dem, was beide dabei hin und her gewälzt haben, obwohl er weiß, dass sein Begleiter ihn schon damals stets korrigiert hat. Ihre Pläne, Herr Reimers. Heute Abend im Zeitgeschichtlichen Forum wird Hans Poerschke das Wort ›Landnahme‹ verwenden und es schaffen, Reimers dabei nicht persönlich anzugreifen. Poerschke weiß, dass es keine akademische Disziplin mehr gibt, die das journalistische Arbeiten ins Zentrum rückt und alles daransetzt, das handwerkliche und intellektuelle Rüstzeug besser zu machen, das die Absolventen mitnehmen in den Beruf. Er weiß auch, dass Karl Friedrich Reimers von allen möglichen Gründungsdekanen menschlich der angenehmste war. Man muss dazu nur die Horrorberichte aus anderen Fachbereichen lesen, die Peer Pasternack in seiner Dissertation über die ›demokratische Erneuerung‹ der Universitäten in Leipzig und Berlin gesammelt hat.62 Ich selbst kann auch einfach in das Original der Dissertation von Karl Jaeger schauen, eingereicht 1921 (kein Schreibfehler) in Leipzig und, so steht es in der Widmung, seit 2013 in meinem Regal in München – von Karl Friedrich Reimers »persönlich weitergegeben an den ersten, früh wohlbestallten Universitätslehrer aus dem Kreis der Leipziger Journalistik-Absolventen 1991ff.«63 Ohne Reimers würde ich dieses Buch nicht schreiben. Ich bin nicht nur ein loyaler Zeuge, sondern auch dankbar. Mit einem Abstand von 30 Jahren sehe ich trotzdem, dass am Ende Elisabeth Noelle-Neumann gewonnen hat, und ich sehe auch, wie hoch der Preis für diesen Sieg war.
WIE EIN PROLETENKIND ZU EINEM ›HOFFNUNGDTRÄGER‹ DER DDR-JOURNALISTIK WURDE
Wulf Skaun weiß nicht, dass er in diesem Kapitel gleich eine Hauptrolle spielen wird, als wir uns heute Abend vor dem Zeitgeschichtlichen Forum begrüßen. Wahrscheinlich weiß er auch nicht mehr, was er im Mai 1990 zu jenem Ost-West-Seminar beigetragen hat, das mir Hans Poerschke gleich per Kassettenstapel anvertrauen wird. Selbst im Rauschen einer alten Tonbandaufnahme wirkt dieser Auftritt fast euphorisch, voller Vorfreude. Der junge Wulf Skaun begrüßt dort zunächst die, die er aus der Literatur kennt. Heinz Pürer aus München, Wolfgang Langenbucher aus Wien. Großartig, dass solche Menschen jetzt im gleichen Raum sitzen wie er und ihm helfen werden, Theorien abzulehnen und Theorien anzunehmen, kurz: eine eigene Position zu entwickeln. Wulf Skaun kündigt an, fleißig zu lesen, nennt Wulf D. Hund und Horst Holzer, zwei Marxisten, von denen der eine, Holzer, die Universität in München 1980 wegen seiner Mitgliedschaft in der DKP verlassen musste,64 und endet mit einem Versprechen, das in den Ohren der meisten Gäste wie eine Drohung klingen muss: »Ich werde meinen linken Standpunkt einbringen«.
Nicht einmal ein Jahr später, zum 30. April 1991, hat Wulf Skaun an der Universität einen Aufhebungsvertrag unterschrieben. Es ist nicht so, dass er danach in ein Loch gefallen wäre. Es gab Arbeit bei der Leipziger Volkszeitung, zunächst in Leipzig und dann ab Februar 1992 in der Lokalredaktion Wurzen, fast zwei Jahrzehnte lang, bis zur Rente. Es ist auch nicht so, dass Wulf Skaun dort keinen Spaß gehabt hätte. Als wir vor ein paar Jahren über sein Leben gesprochen haben, hat er mir zwei Fotos aus dieser Zeit gegeben. Eins zeigt ihn in den frühen 1990er-Jahren, schlank und dunkelhaarig, auf dem Marktplatz in Wurzen, mit Block und Stift. Ein Interview mit zwei Passanten. Auf dem anderen Bild steht Skaun neben Radsportlegende Täve Schur, jetzt grauhaarig und etwas voller. Das ist das, was den Journalismus in einer kleinen Stadt ausmacht. Wulf Skaun wäre trotzdem lieber an der Universität geblieben. Viermal, sagt er, sei er von Wurzen aus noch in ein Seminar eingeladen worden, von Elisabeth Fiedler, eine Kollegin, die weitermachen durfte. »Für mich waren die Begegnungen mit Studenten noch mal Sternstunden«. Man muss gar nicht zwischen den Zeilen lesen, um zu ahnen: Der Job in der Lokalredaktion hat die Wunde nicht schließen können, die der Auszug aus dem Hochhaus am Karl-Marx-Platz geschlagen hat.
Wulf Skaun ist 1945 zur Welt gekommen, drei Tage vor dem Ende des Krieges auf dem Bahnhof in Bad Kleinen, geboren mit Hilfe eines englischen Offiziers, der der Mutter einen kleinen Zettel schrieb (»She gave birth to a male child«) und ihr verbot, den Jungen Adolf, Hermann oder Joseph zu nennen. Er hat wie ich bei der Ostsee-Zeitung begonnen und Heinz Florian Oertel bewundert. Die Friedensfahrt, bei der heute immer Tour de France des Ostens gesagt wird, damit jeder weiß, dass es um ein Radrennen geht. »Die letzte Etappe 1957, das war wie ein Krimi. Die DDR hat fünf Minuten aufgeholt und wurden noch Mannschaftssieger. Wir saßen ständig vor dem Radio. Wie dieser Mann, der die Reportagen sprach: So wollte ich auch werden.«65
Wulfs Vater war ein »richtiger Prolet«, ein Arbeiterkind, »auf dem Weg zum Chemielaborant, als der Krieg kam«, der ihm ein Bein nahm und mehrere Finger. Die Odyssee endete 1947 in Hohen Viecheln, in einem 1000-Seelen-Nest