Das Erbe sind wir. Michael Meyen
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Was mir Heinz Pürer sagen wollte: Was immer du zu diesem Thema aufschreibst, man wird es dir nicht abnehmen. Du bist Partei. Man wird dir vorwerfen, dass du nur dich selbst aufwerten willst. Ja, lieber Heinz: Das will ich. Das will jeder, der ein Buch schreibt. Juan Moreno wollte alles festhalten, was zum ›System Relotius‹ zu sagen ist, und sich damit zugleich einen Schutzwall bauen aus »absoluter Transparenz«.27 Ganz so dramatisch ist die Lage für einen bayerischen Beamten wie mich hoffentlich nicht, aber ich ziele natürlich auf das, was in der Öffentlichkeit so herumschwirrt an Urteilen über meine Ausbilder und meine Kommilitonen. Auf das Verdikt von Gunter Holzweißig. Auf das Etikett ›rotes Kloster‹, das Brigitte Klump, von 1954 bis 1958 in Leipzig Studentin und dann in den Westen gegangen, der Fakultät für Journalistik in den 1970er-Jahren in einem Roman anheftete und das der Verlag dann in der Neuauflage 1991 mit dem Untertitel Kaderschmiede der Stasi an den Zeitgeist angepasst hat.28 Ich will schauen, was sich hinter diesem Etikett verbirgt, und dabei denen eine Stimme geben, die sich nicht trauen, gegen den Diktaturdiskurs anzuschreiben, oder das objektiv nicht (mehr) können.
Das ist ja das Verrückte: So ein Diskurs reproduziert sich selbst. Er bestimmt, welchen Wert eine Biografie hat, und taxiert damit auch das Gewicht von jedem, der sich in die öffentliche Arena wagt. Der Matthäus-Effekt funktioniert auch hier. Wer in den Diskurs ›passt‹, wird lauter und bekommt ein großes Publikum (etwa Wolf Biermann, der sogar im Bundestag gesungen hat und auch sonst stets gefragt wird, wenn es um die DDR geht), und wer von dem abweicht, was einmal als ›gut‹ und ›richtig‹ definiert worden ist, der schweigt. Selbst die, die es gegen jede Regel doch geschafft haben, behalten ihre Erfahrungen lieber für sich. Man muss dabei gar nicht an Andrej Holm, Jahrgang 1970, denken, der in Berlin nicht Staatssekretär sein durfte, weil er als junger Mann ein paar Monate für die Stasi gearbeitet hat, oder an Holger Friedrich, vier Jahre älter als Holm, der in eine ganz ähnliche Debatte geriet, nachdem er und seine Frau Silke im Herbst 2019 die Berliner Zeitung gekauft hatten. Für dieses Buch habe ich mit Bernd Okun gesprochen, für die Leipziger Journalistik-Studenten in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre ein Idol, weil er in seinen Vorlesungen das ansprach, was jeder dachte, aber in keiner Zeitung fand. Okun, inzwischen 75 und als Coach so erfolgreich, dass er einen Tesla fährt und sich feine Büroräume am Thomaskirchhof leisten kann, in Leipzig eine erste Adresse, sagte, er sehe »nicht so gern schriftlich« (vor allem nicht im Internet), dass er 1984 von der Sektion Philosophie an die Sektion Marxismus-Leninismus gewechselt ist. Wenn das heute jemand lese, würde er denken, »ich war ein Ideologe und ein Oberidiot«.29 Der hegemoniale DDR-Diskurs schüchtert heute selbst die ein, die früher mutig waren, weil die Fallhöhe in einer kapitalistischen Gesellschaft viel größer ist.
Eine Ausnahme ist Daniela Dahn. Das »persönliche Panorama zur Lage der Nation und zum Stand des Internationalen«, das diese Schriftstellerin 2019 vor aller Augen entfaltet hat, ist für mich einerseits ein Vorbild und andererseits auch nicht. In Kurzform: ja zur Diagnose, nein zur Methode. Es mag schon richtig sein, liebe Daniela Dahn, »dass ein verzerrtes Geschichtsbild schwerlich durch ausgewogene Gesamtdarstellungen zu erschüttern ist«, dass »das hundertmal Verschwiegene« auf »Kenntnisnahme« wartet und dass der »westliche Diskurs den fremden Blick nicht nur aushalten, sondern als Bereicherung begreifen sollte«. Die »Gegeneinseitigkeit« aber, die man einer Sachbuchautorin möglicherweise durchgehen lässt (zumal wenn sie statt »akademischer Systematik« einen »Gedankenstrom« ankündigt),30 kann sich der professionelle Historiker nicht erlauben. Ich greife stattdessen nach den Sternen und verspreche eine DDR-Geschichte, die über den Tellerrand hinausschaut – in die Bundesrepublik, in die USA. Vielleicht ist das ein Schritt zu jener »gesamtdeutschen Geschichtsschreibung«, die Jochen-Martin Gutsch, ein Ostdeutscher beim Spiegel, Jahrgang 1971, auch 30 Jahre nach dem Mauerfall noch vermisst hat.31 Möglich wird so ein großer Wurf (oder zumindest: seine Ankündigung) durch ein Thema, das klein genug ist, um sich darin wirklich auszukennen.
WAS DAS ALLES MIT DEM HIER UND JETZT ZU TUN HAT
In diesem Buch möchte ich berichten, wie man noch Ende der 1980er-Jahre auf die Idee kommen konnte, die DDR eher stärken zu wollen als sie bei Nacht und Nebel zu verlassen. Zu dieser Geschichte gehört all das, was davor und danach passiert ist. Dafür hatte ich schon einen schönen Untertitel, der den Ruf Rückkehr nach Leipzig wunderbar ergänzt hätte: Journalistik, Abriss, Medienkrise. Die Sprengkraft, die in diesem Dreiklang steckt, speist sich aus der Glaubenslehre, die im Moment die westlichen Gesellschaften dominiert:
•Journalistik, zumal in ihrer sozialistischen Variante: War es nicht ein Irrweg der Geschichte, die künftigen Propheten der herrschenden Ideologie an die Universität zu schicken und ihnen dort vor allem Handwerk beizubringen? Ist das, was dort Wissenschaft genannt wurde, etwa nicht zurecht eingestampft worden, mitsamt seinen Vertreterinnen und Vertretern? Es mag ja okay sein, dass die Reste im Archiv vor sich hin schimmeln und die Veteranen weiter ihre Treffen haben, aber ist es tatsächlich nötig, dieses Fass noch einmal aufzumachen?
•Abriss: Das führt hinein in den Streit um die Begriffe, der überall da besonders heftig tobt, wo die Interessen der Lebenden tangiert werden. Revolution. Wende. Wiedervereinigung. Umbruch. Neuaufbau. Wiebke Müller, die mit mir in Leipzig studiert hat und heute in Dresden für die Bild-Zeitung arbeitet, erinnert sich an die Unsicherheit, die das Wort ›Abwicklung‹ einst bei ihr auslöste: »Wir haben uns gefragt, was das eigentlich heißt. Werden wir jetzt dichtgemacht?« Die Beruhigungspille wurde offenbar direkt im Hörsaal verabreicht (noch so eine Sache, an die ich mich überhaupt nicht mehr erinnere): »Da kam eine Westdeutsche, hat tatsächlich eine Garnrolle aus der Tasche geholt und gesagt: Wir wickeln jetzt den Faden ab, aber die Rolle bleibt. Und dann kommt ein neuer Faden. Neue Leute, neue Inhalte«.32 Das Wort ›Abriss‹ weckt andere Assoziationen. Es trifft das, was passiert ist, viel besser, auch wenn das die Leute mit der Garnrolle bis heute heftig bestreiten. Ich hätte auch ›Landnahme‹ sagen können wie Hans Poerschke, einer meiner Professoren von früher,33 aber zwischen ›Journalistik‹ und ›Medienkrise‹ klingt so ein Wort mit drei Silben einfach nicht gut.
•Medienkrise: Wenn ich meinen Kolleginnen und Kollegen in der Medienforschung glaube, dann gibt es diese Krise gar nicht. Die Presse, vielleicht. Kaum noch Anzeigen und der Abonnentenstamm so alt, dass sich jede Zukunftsplanung fast von selbst verbietet. Noch weniger Anzeigen durch Corona und so noch weniger Zukunft. Aber sonst? Alles nur Gerede. Die herrschende Lehrmeinung sagt: Das Vertrauen in die Medien wächst wieder leicht oder stagniert auf hohem Niveau. Wenn das auf der Straße oder im Netz anders aussieht, dann liegt das an einer Gesellschaft, die sich polarisiert und eher dorthin schaut, wo es besonders laut ist. Und die Qualität der Berichterstattung? Alles gut, im Prinzip jedenfalls. Ein »relativ breites Meinungsspektrum«, eine »pluralistische und professionelle journalistische Medienlandschaft«.34
Ich sage, gestützt nicht nur auf die vielen Gespräche, die ich für dieses Buch geführt habe: So ganz stimmt das leider nicht. Auch hier muss ich gar nicht zu hoch greifen und zum Beispiel auf die doppelten Standards verweisen oder auf die politischen Loyalitäten der Alpha-Journalisten, die Berichte über Freunde und Verbündete anders aussehen lassen als die über Konkurrenten und Gegner und vieles von dem aus der Öffentlichkeit verbannen, was wir eigentlich diskutieren müssten.35 Ich kann beim Thema bleiben. Das Bild, das Presse und Fernsehen seit 1990 von der DDR zeichnen, hat wenig mit dem zu tun, was sich die Zeitzeugen über die Vergangenheit erzählen – vor allem, wenn sie damals im Osten Deutschlands gelebt haben.36 Die herrschende Geschichtspolitik hat es geschafft, die kritischen Geister in den Redaktionen entweder einzulullen oder ihnen die wichtigsten Publikationsplätze zu verbauen, und so sicher nicht nur mich zum Journalismuskritiker