Mythos Mensch. Frank Lisson
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Was also, wenn sich der Mensch eines Tages als sein eigenes großes Missverständnis erkennen sollte, als das Gespött der Welt, in die er hineingeraten war zu seinem eigenen Verhängnis und mit lauter einander widersprechenden Fähigkeiten …? So hätte der Mensch allen Grund, ein ewiges Plädoyer für sich selber zu halten, eine Dauerrechtfertigung seines großen, wenngleich ephemeren Störeinsatzes auf Erden, seines permanenten Krieges gegen die übrige Natur, aus der er gewissermaßen in die Selbstwahrnehmung, ins Selbst-Bewusstsein hinein verstoßen wurde.
Welche Voraussetzungen aber müssen erfüllt sein und welche Bedingungen müssen herrschen, damit ein Mensch mit sich als das Wesen, das er darstellt, in Totalrevision geht? Welcher geistige Zustand muss erreicht werden, damit sich alle Haushaltsbücher des Lebens vor ihm öffnen, er rigoros Bilanz zieht und sich alle Machenschaften eingeübter Verhaltensweisen, die ihn durchs Leben tragen, vor ihm aufdecken? Wann wird sich der Mensch dahin entwickelt haben, endlich einmal ernsthaft Rechenschaft über sich und seine Spezies ablegen zu wollen, weil er des ewigen Ringens um seine ihm auferlegten Rollen in der Welt müde geworden ist? Vielleicht muss er erst von seinen Funktionsweisen und Programmabläufen derart angewidert und gelangweilt sein, dass er die Kraft und den Mut findet, auf sich selber herabzublicken wie auf eine fremde Art. Und vielleicht treten dann die Fragen nach den tiefsten Wahrheiten schauerlich an ihn heran: was geschah eigentlich mit mir, als ich dem großen Abkommen der Überlebenswilligen beitrat? Was wurde daraufhin von mir verlangt und wessen hatte ich mich von da an zu enthalten? Was macht das Leben aus einem Menschen, sobald dieser sich ans Leben macht, sich also am Leben aller beteiligen will? Gibt es womöglich noch einen Menschen hinter dem Spieler, der er werden musste, um in Gesellschaft sein und überleben und glücklich werden zu können?
Insofern steht jene große philosophische Eigenleistung noch aus, in deren Verlauf der Mensch die Scheu vor dem Blick auf die Motive seiner »menschlichsten« Handlungen verliert und die Mechanismen und überhaupt das Mechanische, ja Maschinelle all seiner Interessen, Zugehörigkeiten, Reaktionsmuster, biologischen Äußerungsformen, tradierten Bräuche, Reflexe in politicis etc. sich ihm selber offenbaren.
Strenggenommen kann es heute bei allem Bedenklichen um gar nichts anderes mehr gehen als um die Rechtfertigung des Menschen. Alle Philosophie musste darauf hinauslaufen, den Begründer der Welt nach den Gründen seines Tuns zu fragen. Denn tatsächlich ist eine solche Indiskretion lange unterblieben. Was liegt dem Willen einer jeden Ich-Einheit zugrunde? Wie bildet sich menschliches Wollen, das die Art und deren Entwicklung nach einem bestimmten Muster formt? Die Vernunft Einzelner kann diesem Willen widersprechen, sich ihm verweigern, ohne ihn und seine Folgen jedoch zu verhindern.
Solange der Mensch damit beschäftigt ist, das eigene Ich zu erhalten und zu inszenieren, bleibt er blind für die Vorgänge, die ihn dazu verleiten. Deshalb muss das Leben selber zur Disposition stellen, wer über eben diese Methoden und Künste der Eigenerhaltung Klarheit gewinnen will. – Denn nur das bedeutet Weltüberlegenheit: den Menschen und damit das Menschentum aus der höchstmöglichen Entfernung erschauen und begreifen lernen wie ein Wetterphänomen!
Erst dort, wo der Mensch die Unvereinbarkeit von Ich und Welt erfährt, beginnt die Philosophie. Er bemerkt, dass sich hinter oder über dem Programm primärer Natur zum Lebensvollzug noch eine weitere Sphäre befindet, die ihn jedoch von allem anderen, das heißt von allen Dingen überhaupt, trennt, so dass es ihm möglich wird, die Welt als etwas wahrzunehmen, das sich zum Menschen verhält wie die Idee zu ihrem Schöpfer: das eine verliert ohne das andere die ihm angetragene Bedeutung; es muss oder kann nunmehr über sich selber hinaus betrachtet werden, wodurch jeder kontextuelle Bezug, jeder Wertmaßstab und Nutzen schwindet. Der Mensch steht anders in der Welt, wo er nach einer Besichtigung und Beurteilung dessen verlangt, was ihn als die von ihm erlebte Wirklichkeit umgibt: was ist das, was da mit der Welt geschieht, während wir an ihr teilnehmen und von ihr profitieren, indem wir uns in das bereits Geschaffene einer Umwelt einfügen, deren Sinn und Zweck vollständig auf die menschlichen Bedürfnisse abgestimmt zu sein scheint? Wo ein Mensch der offiziellen, landläufigen Deutung der Welt misstraut, weil ihm das Menschsein buchstäblich über den Kopf gewachsen ist, bekommt die Wirklichkeit einen befremdlichen Charakter; sie offeriert ihm plötzlich Wahrheiten von bestürzender Evidenz, und es drängen nunmehr die horrendesten Fragen auf ihn ein: wie kann ein denkendes, empfindendes Wesen in die Welt eintreten, ohne durch das Bedenkliche und also zu Bedenkende, das es überall umringt, in völliger Verstörung zu enden? Da doch niemand weiß, was das eigentlich für ein Ding ist, das man selber darstellt… Deshalb lautet die erste und letzte aller Fragen: wieso überlebt ein Mensch, der bei klarem Verstand und zur Vernunft fähig ist, sich selber – und stirbt nicht alsbald an dieser Dichotomie und damit an der Welt? – Freilich, man kennt die Antwort: ohne die Begabung zum Mythos hätte der Mensch seinen Weg in die Selbstwahrnehmung kaum überleben oder auch nur antreten können.
So sind es also die großen Mythen, die bald alle Wirklichkeit begründen und die als die großen Befindlichkeiten unserer Art in fünftausend Jahren Eigenrezeptivität längst ihren definitiven Ausdruck gefunden haben. Jetzt aber gilt es, endlich in die Welten hinter den Beschreibungen vorzustoßen und die Geschichten hinter den Geschichten zu erzählen! Doch werden Menschen je die nötige Reife und Unerschrockenheit erlangen, die sie dazu befähigt, das Wesen und den Werdegang der eigenen Art mit der gleichen Strenge, Distanz, Vernunft und Bravour zu beschreiben, mit der die Klügsten und Feinsinnigsten bisher die übrige Natur zu erforschen verstanden? – Damit wäre tatsächlich eine Stufe erweiterten Menschentums erreicht, das den Willen zur Eigenerkenntnis über den Willen zum »schönen Leben« erhöbe. Denn gibt es eine größere Aufgabe, als das Wachsein und die Fähigkeit zur Vernunft für den einen Zweck zu verwenden, nach den Gründen und Wahrheiten der eigenen Gattungseigenschaften, also nach dem Wesen des Menschseins zu fragen?
Jede Anthropologie, die immer auch eine Anthropodizee ist, enthält die Rechtfertigung des Überlebens, also die hinreichenden Gründe gegen das vorzeitige Sterben. Dies scheint nötig, weil das Leben selber solche Gründe offenbar noch nicht liefert, sondern vielmehr im Gegenteil bei genauerer Betrachtung stets vom Dasein weglockt. – Denn strenggenommen beschreibt die gesamte Kulturgeschichte im Wesentlichen ja kaum etwas anderes als eine Anthropodizee: der Mensch will seiner Vernunft nach nicht sein, was er seiner Natur nach ist. Und zwar deshalb nicht, weil er bemerkt hat, dass er, um glücklich zu werden, sich und andere andauernd betrügen muss, selber aber nicht (offen) betrogen werden will. Seitdem betreibt man einen enormen Aufwand, um diesem Dilemma zu entkommen – und einigte sich früh auf Formen des gegenseitigen Selbstbetrugs, die für alle verbindlich sein sollen. – Das waren die Geburtsstunden von Religion und Politik.
Die totale Industrialisierung des Menschen in einer total industrialisierten Welt und das damit eng verbundene Axiom der Konsumfähigkeit als Menschenrecht und oberstes wie einziges politisches Ziel bilden die beiden Fundamente globaler Zivilisation. Aus diesem Zustand ist ein Überlebenstypus hervorgegangen, der dem des alten, antik-abendländischen Geistes- und Kulturmenschen diametral entgegensteht. Kulturen waren Prägungseigenarten isolierter Verbände auf der prinzipiell gleichen Grundlage aller Gattungsangehörigen, die sich auf die gleiche natürliche Weise, wie sie einst entstanden, zurückbilden, sobald jene Isolationsverhältnisse nicht mehr bestehen. Wo sich noch Reste des alten Typus finden, ist dieser heute gewissermaßen zur Teilnahmslosigkeit verurteilt, je weniger dessen Naturell den neuen Anforderungen genügt: ihm schwindet von nun an mehr und mehr das Habitat einer kulturell geprägten, »natürlich« tradierten Wirklichkeit heimatlicher Lebensart. Erst das 21. Jahrhundert lehrt uns mit aller Deutlichkeit das