Mythos Mensch. Frank Lisson
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Vor Beginn des 20. Jahrhunderts gab es noch keine hässliche Architektur, noch keine Überbevölkerung, noch keine Technokratie, noch keinen totalen Ausverkauf der Erde. – Erst nachdem wir einmal ernsthaft die Frage nach dem Warum all dieser Dinge aufgeworfen haben, erschließt sich uns der Wert des Kulturellen; wir erkennen die Lage des neuen, kulturell entsittlichten und entwerteten Menschen und bekommen vielleicht ein Gespür für das Ungeheuerliche, das diese beiden Weltalter voneinander trennt. Im 20. Jahrhundert ereignete sich der große geistig-materielle Bruch, die gewaltige Umbildung, ist buchstäblich alles anders geworden! Und was die meisten Menschen in blinder Bewunderung als »emanzipatorischen Fortschritt« feiern, weist in die Richtung einer Entwicklung, die alle romantischen Veredelungsabsichten Lügen straft.
Es gehört zu den faszinierendsten Erfahrungen des Menschseins, dass bereits in dem Moment, wo sich Homo sapiens seiner Stellung in der Welt rational bewusst zu werden begann, die gravierenden Daseinsprobleme erkannt und beinahe schon erschöpfend behandelt worden waren. Jedenfalls bleibt es erstaunlich, wie die großen Entdecker des Humanistischen oder, griechisch gesprochen, des Anthropologischen und damit Halluzinatorischen in der Philosophie, wie also der antike Geist etwa eines Heraklit oder Platon die wesentlichen Fragen des Menschseins bereits bis auf den Grund auszukosten vermochte. Je tiefer wir seitdem in die Ursachen aller geistigen Verwerfungen und Widersprüche eindringen, desto klarer wird, dass die Grundprobleme menschlichen Daseins weder kultureller noch politischer oder sozialer, sondern allein typologischer Natur sind. Nicht am Gesellschaftlichen und an seiner Ökonomie, sondern am Typologischen scheiden sich die Geister. Kein Mythos erzählt von dieser Tatsache eindringlicher und anschaulicher als Platons berühmtes Höhlengleichnis, das verdeutlicht, wie es um das menschliche Verhältnis zur Wahrheit durch Erkenntnis eigentlich steht. Wer sich der Weltschau des reinen Denkens überließe, machte sich dadurch bald seine gesamte Umgebung zum Feind, da er überall an ihren Ungereimtheiten, Schwachstellen, Torheiten rühren müsste, wobei sich herausstellte, wie wenig das Denken oder der Logos mit den menschlichen Gewohnheiten, Meinungen, Einrichtungen, Vorlieben und Zwecken übereinstimmt.
Vor bald zweitausendvierhundert Jahren wurde also bereits warnend beschrieben, was Erkenntnis ist, was sie anzurichten vermag und wie es ihr gelang, das Menschentum in einander widersetzende Teile zu spalten. Seitdem stehen sich zwei grundverschiedene Menschentypen geradezu artfremd gegenüber: derjenige, welcher aus der »Höhle« heraustrat und sich an das Licht der »Sonne« gewöhnte, wodurch er »sehen lernte«, den Blick für das Wahre, also Unverborgene erwarb, und jener, der dem Schattenspiel innerhalb der »Höhle« verhaftet blieb.
Zunächst bereitete der Blick in die »Sonne« freilich Schmerzen; und zwar in zweierlei Hinsicht: er hebt die schöne Täuschung auf, und er trennt den Sehenden von den übrigen, die nichts von ihm wissen wollen, sobald er sie über das Wesen ihrer Trugbilder und Eigenschaften aufzuklären versuchen sollte. Denn sie haben sich in ihrer »Höhle« bestens eingerichtet, genießen dort alle Privilegien und wollen mit gar keiner anderen Wahrheit konfrontiert werden als mit jener, die sie täglich zu sehen bekommen. Wenn aber, lässt Platon in der bei ihm üblichen Dialogform fragen, der dem Höhlendasein entronnene Mensch nun an seine erste Behausung zurückdenkt und an die Weisheit, die dort galt, und an seine damaligen Mitgefangenen, wäre er dann noch auf das Lob, das sie einander dort spendeten, erpicht und würde er diejenigen beneiden, welche bei jenen dort in Ehre und Macht stehen? – »Wenn er dann aber wieder versuchen müßte, im Wettstreit mit denen, die immer dort gefesselt waren, jene Schatten zu beurteilen (…), so würde man ihn gewiß auslachen und von ihm sagen, er komme von seinem Aufstieg mit verdorbenen Augen zurück und es lohne sich nicht, auch nur versuchsweise dort hinaufzugehen. Wer es aber unternehmen sollte, sie zu lösen und hinaufzuführen, den würden sie wohl umbringen, wenn sie nur seiner habhaft werden und ihn töten könnten?«1
Tatsächlich gibt es nichts Schaurigeres als einen solchen, schärferen Blick auf den Menschen; und es gibt keine größere Qual, als mit einem solchen Blick, mit dem legendären »Auge zu viel«, geschlagen zu sein. Schon allein deshalb ist es zur guten Gewohnheit geworden, für die eigenen Funktionsweisen und Instinkte zu erblinden. Denn kein anderes Lebewesen kennt den Schrecken und die Verzweiflung, die sich aus dem ungeheuren Spannungsverhältnis menschlicher Wahrnehmungsfähigkeiten und Geistesleistungen ergibt. Keine andere Kreatur vermag ihr Verhalten zu beobachten und dahinter die Absichten zu erkennen, durch die es gelenkt wird. Und eben das macht das Leben unter Menschen für die im platonischen Sinne Sehenden so bedrückend und bedrohlich, ja beinahe unmöglich.
Wissen wir doch bis heute nicht, was Leben eigentlich ist – und warum Leben ist, geschweige denn, wozu es ist! Und was es wäre, wenn es den Menschen nie hervorgebracht hätte, niemand also je dazu veranlasst worden wäre, einen höheren Plan hinter all dem zu vermuten und entsprechende Theorien und Mythen zur Erklärung oder Erbauung herbeizudichten. Der Umstand, dass es Leben in seiner denkenden, sinnierenden Form – vielleicht nur eine knappe Erdgeschichtssekunde lang – gibt, scheint die Intensität der Selbsterkenntnis kaum gesteigert zu haben; denn anderenfalls wäre es mit jedem religiösen Glauben, mit jeder Metaphysik sofort vorbei. Niemand stellt sich über sein Bewusstsein für das Leben selber in Frage; niemand erschaudert ernstlich vor der Tatsache, ein lebendiges Ding zu sein, das als Einzelnes nur über die anderen erklärbar wird, ohne dass es sich selber je als einen Anderen begreifen könnte. Nur weil wir nicht wissen, was Leben ist, gelingt es uns zu leben. Nur weil wir nicht wissen, was der Mensch, was Geist ist, können wir diejenigen sein, für die wir uns halten. Deshalb müssen wir alle unsere Mythen pflegen, um am Leben wie am Menschsein nicht zugrunde zu gehen, müssen uns täglich davon abbringen, uns über das, was wir darstellen und was wir tun, klarwerden zu wollen. Also müssen wir uns selber und allen anderen unkenntlich bleiben – so will es das Leben, dem wir bedingungslos-rauschhaft ergeben sind, damit es uns nicht abwirft, nicht von sich weist, und wir identisch werden mit unserer Natur, unserem Typus, den wir verkörpern und von dem wir ebenfalls nichts wissen wollen. – Ach, wo ist der Mensch, der sich aufgrund seiner eigenen Mythologie endlich selber einmal unheimlich geworden wäre? Den das Leben bis ins Mark erschütterte, weil niemand, der das Leben ohne Ausflüchte bedenkt, dem Leben gewachsen sein kann! Einem solchen Menschen wäre die Welt mit all ihren Phänomenen schlechterdings zu groß; er würde unter ihrer Last zerbrechen, denn wie sollte er ihre Wirklichkeit und die des Menschen jenseits seiner Mythen ertragen? Besser also, nie zu erfahren, was Leben überhaupt ist, und wozu ein so bizarres, erst durch den Menschen erzeugtes Phänomen wie Geist eigentlich entstand – und welchen gefälligen Dienst seiner Natur erweist, wer einfach nur lebt.
1 Platon, Politeia, 516b-517a; übers. nach Schleiermacher/Rufener. – Bekanntlich warnt ein zweiter, älterer Mythos noch eindringlicher davor, der »Sonne« zu nahe zu kommen: es ist der des Ikarus, welcher ebenfalls mit dem Leben dafür bezahlen musste, dass er eine Fähigkeit, für die seine Natur nicht gemacht war, die des Fliegens, vor lauter Lust an der neuen Bewegungsart auslebte – und also daran zugrunde ging.
Man muß inne werden, daß die Welt nur als eine Erkenntniß da ist und somit abhängig vom Erkennenden welches man selbst ist. Das Seyn der Dinge ist identisch mit ihrem Erkanntwerden.
Arthur Schopenhauer,
Vorlesung über die gesamte Philosophie, 1820.