Mythos Mensch. Frank Lisson

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Mythos Mensch - Frank Lisson

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dem Versprechen antrat, die Dinge wieder ins »Biologisch-Natürliche« zurechtzurücken, Jungen wieder zu echten Männern und Mädchen wieder zu echten Frauen zu machen, nachdem im Zuge der Kultur-Moderne die vermeintliche Ordnung der Dinge samt der damit verknüpften alten Erwartungen durcheinander geraten war.

      Frauen, männlich betrachtet. – Das Denken, Fühlen und Wollen der meisten Frauen bleibt viel zu oft in der kleinsten geistigen Problemeinheit hängen: der zwischen Ich und Du. Infolgedessen fehlt ihnen bald jeder tiefere Sinn für das Ungeheuerliche der Welt. Warum aber reicht die Wahrnehmung von Frauen, bei allem Gefühl, das sie für die Dinge aufzubringen fähig sind, zumeist kaum über sich selber hinaus? Warum interessiert sie alles Persönliche in höherem Maße, nicht aber das Darüberhinausgehende? Wie Flechten kleben Frauen an der Erde ihrer Empfindungen, die alles Verwandte in sich schließt, alles Nahe und Direkte, aber für Großes und Gewaltiges, für Überpersönliches nur wenig Bereitschaft parat hält, weshalb das Leben so vieler Frauen ein einziges und nie enden wollendes Beziehungsproblem darstellt. Jeder Mensch bewohnt ganz eigene, verschiedenartige Räume, doch erweisen sich die weiblichen als besonders eng und dunkel, worin sich die Frau immer wieder auf die eigenen Füße tritt – und daraus ihre erhöhte Empathie und Schmerzempfindlichkeit zu schöpfen scheint, ohne jedoch jemals die Weiten männlicher Welten auch nur zu erahnen. Wer solche Beobachtungen für das Resultat maskuliner Voreingenommenheit hält, vergleiche nur die geistigen Erzeugnisse beider Geschlechter miteinander. Und je offenkundiger jene mentale Verschiedenheit im 20. Jahrhundert zutage trat, nachdem sich niemand mehr hinter der Behauptung patriarchalischer Unterdrückung verstecken konnte, desto vehementer bestritten die Weiblein beiderlei Geschlechts das Faktum natürlicher Diversität und führten umso radikaler ihren Feldzug gegen die eigene Art. Seitdem gönnt niemand mehr dem anderen dessen häufig hormonell oder geschlechtlich bedingte Qualitäten, sondern will nur noch sein, was er nicht ist und erzwingt mit aller Gewalt das zu praktizierende Recht auf Unterschiedslosigkeit. – Die Schäden dieser Verblendung haben die extra zu diesem Zweck herbeigezüchteten Heerscharen von Therapeuten in Dauerbehandlung ihrer Ich-weiß-nicht-was-ich-will-Patienten aller möglichen Geschlechter zu beheben.

      Hundecharakter. – Seinen Herrn auch dann noch verteidigen, wenn man von diesem, vielleicht ohne Not, geschlagen und misshandelt worden ist; sich aber sogleich dem neuen Herrn unterordnen, sobald dieser sich als solcher zu erkennen gibt. – Das ist auch etwas Menschlich-Deutsches.

      Entscheidung. – Allein dort, wo der Mensch vom Menschen spricht, wird er vom Menschen verstanden. Doch wo er über den Menschen spricht, kann er nicht mehr zu ihnen sprechen. So sagte einer: Ich suchte nach Menschen und fand überall nur – Natur.

      Selbstbild. – Der Mensch bildet in allen seinen Werken stets nur den Menschen ab. Aus diesem Zirkel gibt es kein Entkommen. Deshalb bleibt der Mensch dem Menschen das größte Unglück. Die Welt an sich ist dem Menschen freilich nicht feindlich; sie lässt sich bearbeiten – nicht aber das Wesen des Menschen, dessen Lebensbegriff und Grundnatur die Zerstörung der Welt impliziert.

      Menschenwerk. – Das derzeit anbrechende, neue Weltalter wird nicht zuletzt über seinen technischen Charakter zu der trivialen, aber so lange vertuschten Einsicht führen, dass alles, was das Leben mit Sinn und Bedeutung erfüllt, Menschenwerk ist: Gott, Staat, Moral, überhaupt alles Politische wie Glaube, Liebe, Hoffnung; ja, es wird nicht ausbleiben können, endlich zugeben zu müssen, dass der Mensch selber Menschenwerk ist! Diese so lange verleugnete Tatsache machte zuletzt alles möglich und entband den Menschen seit jeher von jeder Verantwortung gegenüber der außermenschlichen Welt, der übrigen Natur, die nicht von ihm geschaffen worden ist. Wo immer der Mensch nach einer Instanz suchte, die ihm Regeln auferlegte, hatte er sie sich zuvor selber geschaffen; nichts befahl ihm je irgendetwas, das nicht seiner eigenen Phantasie entsprungen wäre. – Und diese Haltung, diese Verfahrensweise geht nun auf die Maschinen über, wird an sie vererbt. Hieraus erklärt sich die Formbarkeit des Menschen, sowie die Beständigkeit des Unbeständigen: das ewige Werden durch andauernde Veränderung des Gleichen. In der frühen Leugnung jener Evidenz, dass der Mensch dem Menschen alles ist, es kein Davor und kein Danach, kein Darüber, sondern nur ein Darunter gibt, hat jeder Offenbarungsglaube seine Wurzel. Deshalb umringt sich der Mensch mit lauter Selbstgeschaffenem, das ihn in Gesellschaft setzt und ihm suggerieren soll, dass er nicht autochthon und in diesem Sinne nicht allein auf der Welt, sondern das Kind oder Werk einer höheren Ordnung ist, die schützend über ihn wacht.

      Gattungsnatur. – Das Schicksal jeder Gattung liegt in ihren Eigenschaften. Und jeder Einzelne bedient sich solcher Eigenschaften, um vor den jeweiligen Anforderungen herrschender Wirklichkeiten zu bestehen. Was wir Wille zu nennen gewohnt sind, findet eben nicht als autonome Leistung im Einzelnen statt, sondern ist das Ergebnis verschiedener Begabungen, jene Eigenschaften am vorteilhaftesten zu nutzen. Der Erfolg eines Menschen, andere Menschen für sich zu gewinnen, resultiert aus der Fähigkeit zur richtigen Handhabung jener Eigenschaften, die dem Willen zur Gattung unterliegen. Und aus eben diesem Willen zur Gattung ergibt sich die große Rechtfertigung des Menschen, der zugleich die Bildung eines echten Einzelwillens verhindert. Jeder soziale Erfolg unter Menschen ist mit dem Verzicht auf den Einzelwillen erkauft. Denn die Bereitschaft, sich am Gattungswillen zu beteiligen, setzt den Willen zur Gattung voraus.

      Willens-Freiheit. – Gibt es einen menschlichen Willen in der Welt, also einen Willen, der allein dem Menschen zukommt? Was unterschiede dann den »Willen in der Natur« von einem solchen menschlichen Willen? Oder ist nicht jeder Wille, den Begriff beim Wort genommen, von vornherein etwas rein Humanes? Folglich ist Willensfreiheit ein Widerspruch in sich; ein Wille kann niemals »frei« sein, denn sobald er in mir wirkt, hat er bereits Gewalt über mich. Und zu behaupten, die Freiheit bestünde darin, einen Willen über einen anderen zu erheben, schmeichelt bloß dem Verstand. Denn das Leben selber zwingt uns zur Wandlung – wodurch jede höhere Freiheit zur Selbstgestaltung aufgehoben ist. Der Einzelne kann den Zeitläuften so wenig entgehen oder sich der ihn umgebenden Welt entziehen wie dem eigenen Tod. Er bleibt Material seiner Gattungsnatur, ein Stück Wegstrecke, auf der sich die Evolution seiner Art vollzieht. Denn die Natur gewährt niemandem das Recht auf Eigenentwicklung, die nicht im Rahmen des Gattungsprogramms verliefe.

      Wille zur Belastung. – Warum gründen Menschen auch dann noch Familien, wenn dies für den eigenen Schutz und das eigene Überleben nicht mehr nötig ist? Zunächst wirken hier natürlich älteste Atavismen nach; darüber hinaus scheint es aber auch ein menschliches Bedürfnis zu sein, sich über die Zeugung von Nachkommen etwas Eigenes zu schaffen: als Ergänzung und Fortführung, aber auch als Belastung des eigenen Ich. Denn erst diese Belastung schafft das nötige Schwergewicht des eigenen Lebens, ohne das vielen tatsächlich etwas fehlen würde. – Vielleicht ist der Wille zur Belastung, die Freude daran, sogar das entscheidende, wenngleich verdeckte Motiv, weshalb Menschen sich auch heute noch, also in Zeiten der Übermoderne und Zivilisation, mit dem Ziel zusammenfinden, bewusst zu zeugen, obwohl das Programm der Zeugung von seinem alten, ursprünglichen Sinn doch längst abgekoppelt ist.

      Wille zur Ökumene. – Seitdem Menschen ihre Verschiedenheit bemerkten, versuchten sie, diese aufzuheben, zu überwinden, rückgängig zu machen, so als stamme die Menschheit von einem Ur-Paare ab und entwickelte sich aus einer Ur-Gesellschaft heraus, in der alle gleich gewesen seien – und in die man instinktiv zurückwolle. Nachdem der biblische Mythos, der Glaube an den universalen Gott Israels, diese offenbar urmenschliche Sehnsucht nach Einheit aller Dinge theologisch autorisiert hatte, war der Wunsch nach Verwirklichung totaler Egalisierung nicht mehr aus der Welt zu schaffen, und das Abendland hat seinen großen Anteil an der Verbreitung dieser Vorstellung einer ursprünglichen Ökumene. Zunächst versuchte man im Abendland, alle Menschen unter das gemeinsame Dach einer Kirche, der Ecclesia catholica oder Ecclesia universalis zu zwingen, dann die fremden, »niederen« Rassen, die sich vom Europäer unterschieden, sowie alle anderen »Ungläubigen« zu bekehren, zu assimilieren oder auszurotten, und schließlich begann man sogar, sämtliche Unterschiede zwischen den Menschen an sich, den Geschlechtern und Ethnien zu leugnen. Die Kontinuität im Bestreben des Europäers und seiner Kolonisten, die Menschheit

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