Mythos Mensch. Frank Lisson

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Mythos Mensch - Frank Lisson

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zu lesen sein mögen, der Notwendigkeit ihres Entstehens jedoch entbehren.

      Die Summe ihrer Teile. – Wenn das Evolutionsprodukt Menschheit das Abbild der Entwicklung von Anlagen ist, die unter verschiedenen Bedingungen verschiedene Formen hervorbrachten, erklärt dies die Entstehung ähnlicher oder sogar gleicher Seinsund Verhaltensweisen und menschlicher Erfindungen wie »Seele«, »Gott«, »Unsterblichkeitsglaube« etc. unabhängig voneinander und verweist zugleich auf das natürliche Zusammenfließen all dieser Phänomene aus verschiedenen Quellen zu einem sich als Ganzes erkennenden Organismus, dem wiederum das Schicksal seiner biologischen Programme beschieden ist. Der Einzelne fungiert dabei als Zellkörper dieses Gesamten, das sich nur über seine Gattungseigenschaften begreifen lässt, als mankind oder humankind. Diese Entwicklung trägt ihre Erbinformationen und Ausrichtungen bereits in sich wie das Genom der einzelnen Exemplare, durch die sie verkörpert wird.

      Technische Verhältnisse. – In der geistesgeschichtlichen Situation postkultureller Zustände kommt es nur noch darauf an, den Menschen seiner biologischen Art nach verstehen zu lernen, um in Begleitung solcher Erkenntnisse auf das soziotypische Verhalten Einzelner und ganzer Gesellschaften schließen zu können. Wem es nicht genügt, sich bloß in Beschreibungen des Vergangenen und Gegenwärtigen zu ergehen, muss den Menschen als Abstraktionsobjekt mit dem gebührenden Abstand zu sich selber ins Zentrum all seiner Beobachtungen und Überlegungen rücken. Anders ist es gar nicht möglich, wirklich zu begreifen, wie und warum sich geschichtliche Wandlungen vollziehen und welche Rolle der spezifischen Natur des Allgemeinmenschlichen dabei zufällt. Denn die Natur der Dinge kann nichts hervorbringen, was nicht in ihr selber angelegt wäre. Alle menschlichen Handlungen sind Ausdruck von Reaktionen auf Erfahrungen innerhalb dieser Natur: sie generieren dasjenige Programm, das sich durch Reproduktions- und Kopiervorgänge stofflich in uns ergeben hat. Natur bringt sich über die Dinge, die sie erzeugt, immer nur selber zum Ausdruck. Das nennen wir Technik: die Verfahrensweise, wie etwas auf etwas anderes reagiert und dadurch weiteres erzeugt. Die »technischen Verhältnisse«, über die alle Exemplare seit jeher miteinander in Verbindung stehen, zeigen sich heute besonders deutlich im Gebrauch jener Technologien, die ohne eine solche Anlage dazu gar nicht hätten hergestellt werden oder Verwendung finden können.

      Evolutionsbiologie. – Die heute erreichte Dynamik einer sich von nun an potenzierenden Zukunft ist etwas, womit der Mensch bislang noch keine Erfahrungen machen konnte, weshalb wir so schwer begreifen, was derzeit mit der Welt geschieht. Diese Dynamik hat den Menschen um seine historischen Visionen gebracht, doch die Qualität der Entwicklung verhindert, diesen Verlust überhaupt zu bemerken, weil an die Stelle der alten Visionen tausend Innovationen getreten sind, die jeden in Bewegung halten. Diese neue Form der Zukunft, die uns alle erfasst, ist erstmals eine in sich geschlossene, weil sie in noch nie dagewesener Weise auf den bereits erreichten Zustand folgt. Denn von jetzt an gestaltet sich das schon Vorhandene selber, ohne dass der Mensch noch die Möglichkeit zum Richtungswechsel, geschweige denn zur Umkehr hätte: es geschieht einfach mit uns, während wir meinen, das Geschehen zu steuern oder wir uns wenigstens das Recht auf Unvorhersehbarkeit in der Geschichte vorbehalten. Wir meinen, uns den Ereignissen gegenüber selbständig zu verhalten, obwohl unser Verhalten zumeist längst Teil des Geschehens geworden ist, das mit uns passiert, weil sich beides gar nicht mehr voneinander trennen lässt. Nur bemerken wir vor lauter Veränderungseuphorie unsere Situation nicht, zum ersten Mal in der Weltgeschichte als Mensch kein historisches Subjekt mehr zu sein, das sich noch entscheiden könnte, wohin es wolle. – Aber gerade darin erkennen nicht wenige das große Glück, worauf der gesamtmenschliche Wille doch immer hinauslief: endlich nicht mehr selber vor die Wahl gestellt zu sein, was der Mensch sein solle, sondern wieder ganz Ding der Natur zu werden, um endlich in der Illusion moderner Pseudo-Freiheit unbegrenzter Entfaltungsmöglichkeiten digitaler Vernetzung heimzukehren wie einst in die bergenden Arme der Allmacht Gottes. Deshalb ist es unmöglich und geschieht es auch nicht, dass ganze Verbände sich gegen die Triebkräfte jener Dynamik, gegen die technischen Innovationen entscheiden und sagen: wir wollen die Digitalisierung des Lebens nicht! – Und eben daran, an dieser Unfreiheit, als Gattung fundamentale Entscheidungen auch gegen die Dynamik der eigenen Natur zu treffen, kann man ablesen, was Evolution ist. Hüten wir uns also mit allen Mitteln vor dem Erwachen aus der großen, bunten Truman-Show, deren Spielleiter keine bösen Mächte sind, sondern die Funktionen unserer Evolutionsbiologie!

      Echo der Gattungseigenschaften. – Der sogenannte menschliche Geist ist wegen seiner Besonderheit, seiner Fähigkeiten, die in ihm selber liegen und als Grundlage fast aller anderen, praktischen Fähigkeiten des Menschen erkannt wurden, seit jeher deutlich überschätzt worden. Deshalb hat man ihn nie zum Organischen gerechnet, nie mit den Funktionen anderer Organe verglichen, ihn aus Faszination vor sich selber gleichsam heiliggesprochen. Dabei ist das menschliche Verhalten viel mehr Ausdruck seiner Biologie, seines Überlebensinstinktes, als seiner Fähigkeit zum »reinen Denken«. Mag der Mensch als organischer Apparat auch noch so kompliziert aufgebaut sein, als Gattungsexemplar, das seiner Natur untersteht, ist er ebenso leicht zu »berechnen« wie jedes andere Tier. – Dies verinnerlicht, ließe sich beobachten, wie man vom Funktionsträger biologischer Befehle zum »reinen Bewusstsein« gelangen kann durch Verlust der Gattungseigenschaften! Also kein Bedürfnis mehr zu haben nach dem bloß Menschlichen, das aber als schöne Erinnerung immer noch nachwirkt.

      Sexus sive Kultus. – Frauen sind zumeist ganz von sich aus weiblich; Männer hingegen müssen ihre Männlichkeit stets erst unter Beweis stellen: allein ihr männliches Verhalten macht sie zu Männern. Dieser Druck, einer Erwartung zu genügen, dem Männer ganz anders ausgesetzt sind als Frauen, begann bereits bei den Naturvölkern und hat sich seitdem über alle Generationen und Weltgegenden vererbt. Daraus erwuchsen schwerwiegende Folgen für die unterschiedlichen Selbstausrichtungen der Geschlechter, die bis in die Tiefenschichten sexueller Veranlagung reichen. Wo ein Mädchen schlechte Erfahrungen mit Männern macht, vielleicht misshandelt oder gar missbraucht wird, kann ein solches Erleiden in die Homosexualität treiben, sofern eine Disposition dafür besteht. Fortan sucht es sein Bedürfnis nach Liebe in den eigenen Reihen zu stillen, weil es sich vom anderen Geschlecht abgestoßen fühlt. Wird dagegen ein Junge von Frauen seelisch oder körperlich misshandelt, tritt ein solcher Effekt kaum ein. Der Betroffene wird sich daraufhin nicht von Frauen abwenden und sein Verlangen nach Zuneigung bei Männern zu befriedigen suchen. Denn seine Männlichkeit ist durch die böse Erfahrung mit Frauen nicht verletzt worden. Wird dagegen ein schwacher, eher unmännlicher Junge von einem starken, dominanten Vater dahingegen gekränkt, dass dieser ihm seine fehlende Männlichkeit vorwirft, kann das zu einer Verachtung des Weiblichen im Jungen führen, die ihn wiederum auch sinnlich oder gar sexuell zu Männern hingezogen sein lässt, da er dort findet, was ihm selber ermangelt. Wer gerne ein »echter Mann« wäre, aber zu wenig Männliches in sich vorfindet, neigt zur Verherrlichung des Männlichen und verachtet im Gegenzug alles Weibliche, weil es ihn permanent an seine »Schande« erinnert, selber viel mehr Weib als Mann zu sein. – Hier haben wir es mit dem Phänomen einer Verachtung des Eigenen zu tun, das geeignet wäre, seine Spuren im kollektiven Bewusstsein ganzer Kulturen zu hinterlassen.

      Kultus sive Sexus. – Als der Physiker Albert Einstein 1914 auf die hohe Bereitschaft, ja Begeisterung blickte, mit der die meisten jungen Männer Europas in den Krieg zogen, sah er darin das Verlangen, sich gegenseitig seine Potenz zu beweisen. Eine These, die bekanntlich auch der Psychologe Sigmund Freud vertrat. Tatsächlich sind die Ursachen für den sogenannten Militarismus Europas und vielleicht besonders der des jungen Deutschen Reiches auch in diesem Bedürfnis nach demonstrativer Männlichkeit zu suchen: eine Nation, die sich zu lange von ihrem mächtigen Nachbarn hatte demütigen lassen müssen, und die nur deshalb gedemütigt werden konnte, weil sie zu schwach, zu wenig männlich gewesen war, beginnt nun das »Weiche« und »Weibliche«, das Geistig-Lyrische in sich zu verachten; also gerade diejenige Eigenschaft, worin bisher ihre einzige Stärke zu liegen schien. Man will von einer Dichternation zu einer Kriegernation werden. Hier lässt sich tatsächlich eine Linie verfolgen, die vom Preußenkönig Friedrich II. bis hin zum Nationalsozialismus führt: der weiche, musische, philosophische König, der die blutigsten Kriege entfachte, während sich sein Vater, der

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