Der veruntreute Himmel. Franz Werfel
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»Meine liebe Tante«, schrieb der Neffe, »ich bin gezwungen, Ihnen einen Schmerz zu bereiten, wie ich hoffe, das erstemal im Leben. So weh mir dieser Schmerz selbst tut, ich kann nicht anders. Ich ertrage dieses so wenig verdienstvolle und so sehr langweilige Leben nicht länger. Noch bin ich jung. Noch ist die Flamme des Ideals nicht erloschen in mir. Zum untergeordneten Bürokraten der letzten Dinge des Menschen fühl ich mich zu gut. Mein noch so heißes Herz treibt mich an, nach höheren Verdiensten zu greifen, die einst nicht nur mir, sondern auch Ihnen zugute kommen sollen, Tantchen. Teile daher mit, daß ich mich unwiderruflich entschlossen habe, in die Mission zu gehen. Die Väter von Sankt Gabriel bereiten eine Expedition nach Patagonien vor. Dies ist das sogenannte Feuerland, wo aber keine Hitze, sondern große Kälte herrscht, denn es grenzt an das südliche Polargebiet. Das ist auch der Grund, warum die persönliche Ausrüstung jedes Missionars auf achtzig englische Pfund zu stehen kommt, zwei Tausender in Eurem Gelde. Damit werden nur die allernotwendigsten Bedürfnisse für drei Jahre gedeckt. Jeder Teilnehmer muß diese Summe erbringen. Für alles andere kommt Sankt Gabriel auf. Einige Posten für junge Missionare waren ausgeschrieben. Ich habe mich bereits gemeldet, verzeihen Sie mir. Meine Aufgabe wird es nicht nur sein, das Licht den Heiden zu bringen, sondern arme unwissende Wilde, die in Krankheit, Schmutz, Verkommenheit leben, auf jede Weise zu betreuen und zu erziehen. Freilich, diese Wilden sollen ziemlich kriegerisch und heimtückisch sein. Sie sind mit Blasrohren und giftigen Pfeilen ausgerüstet, die schon durch den geringsten Hautritz töten. Aber fürchten Sie nichts für mich, Tantchen! Sie werden ja wissen, daß der Martertod eines Missionars in Ausübung seiner Pflicht als ein heiligmäßiger Tod gelten kann. Sollte ich also, einen giftigen Pfeil im Herzen, in der dortigen schneebedeckten Wildnis fallen, so werden Sie es sein, die dem armen Burschen aus Hustopec zur Krone des Lebens verholfen haben. Ich glaube aber fest, daß der Schutzengel neben mir stehen und die vergifteten Pfeile der Patagonier abwenden wird. – Es tut mir sehr leid, daß ich Ihnen wieder auf die Tasche fallen muß, Tantchen! Aber Sie haben mich achtzehn Jahre lang ganz erhalten und weitere acht Jahre regelmäßig unterstützt, wie könnten Sie da eine letzte Zuwendung für denjenigen beschweren, welcher am Tag aller Tage Zeugenschaft vor Christus dem Richter ablegen wird für Sie . . .
Wenn Sie wollen, so können Sie im Mödlinger Missionshaus Erkundigungen über unsere Expedition einziehen . . .«
Am nächsten Sonntag fuhr Teta wirklich nach Mödling und zog in Sankt Gabriel Erkundigungen ein. Das berühmte Mutterhaus der kühnen Missionare aber war eine ganze Stadt, in der sie sich verirrte. Als sie endlich in irgendeiner Kanzlei landete, in welcher viele geweihte Männer sehr beschäftigt ein- und ausgingen, stellte sie mit kleiner, verschüchterter Stimme ihre Frage. Sie erfuhr auch, daß besagte Expedition in drei Wochen von Hamburg nach Südamerika in der Tat abgehen werde. Daß einige jüngere Herren dem Unternehmen angehören sollten, stimmte ebenfalls. Zuletzt aber fand Teta den Mut nicht mehr, jenen riesigen breitbärtigen Pater, welcher ihr Auskunft erteilte, auch noch mit dem Namen ihres Neffen zu belästigen. Sie fand, sie wisse nun genug und verließ die Mauern Sankt Gabriels sehr erleichtert. Darauf beschwor sie den Neffen in einem Brief, um Gottes willen seinen Entschluß aufzugeben, der ihr solche Sorge bereitete. Er antwortete zum erstenmal nicht blumig weitschweifig, sondern knapp und fast grob, wenn ihm verwehrt sei als Missionar zu wirken, so werde er den ganzen geistlichen Krempel hinhauen und zum Journalismus übergehen. Da griff Teta zu einem Mittel, das ein sonderbares Licht auf ihre innersten Zweifel und die heimliche Beurteilung des Neffen wirft. Sie bot ihm das Geld unter der Bedingung an, daß er auf seinen Missionsplan ausdrücklich verzichte. Die Entgegnung war diesmal nicht grob, sondern tief gekränkt: ob sie ihn für einen Erpresser, einen bestechlichen Haderlumpen oder pfäffischen Hanswurst halte? Er nehme sein Amt ernst. Wenn er als Priester nicht das Höchste und Heiligste leisten dürfe, um so besser, dann wolle er sich schon anderswie durchs Leben schlagen, und er freue sich sogar darauf. Die entscheidende Stunde seiner Existenz sei gekommen. Tantchen möge ihr Geld behalten.
Es war in diesem Brief ein drohender Ton. Sollte der Lebensplan nicht in Brüche gehen, so mußte Teta sich ergeben. Sie spürte genau, daß die feurige und schwärmerische Seele Mojmirs nicht mit sich spaßen lasse. Diese war zweifellos zu allem imstande. Tetas Ersparnisse hatten sich im Laufe der Zeit wieder etwas erholt. Sie sandte also das Geld. Im Spätherbst erhielt sie eine Ansichtskarte aus Hamburg. Vor der Laufbrücke eines Überseedampfers standen mehrere pelzvermummte Männer, den Kragen hochgeschlagen. Einer dieser Männer war mit einem Kreuzchen bezeichnet. »Das bin ich«, hatte Mojmirs Hand hinzugeschrieben.
Die nun folgende Epoche der missionarischen Tätigkeit Mojmir Lineks brachte nicht nur Teta Kummer und Mißhelligkeit aller Art, sondern auch dem Hause Argan. Jetzt geschah es im Gegensatz zu früheren Zeiten nur allzu häufig, daß eine Speise nicht geriet, und daß der Beginn der Mahlzeit sich um halbe Stunden verzögerte. Es gab täglich Krach mit dem übrigen Personal, und insbesondere Herr Bichler beschwerte sich über den schlechten Charakter aller ›Betschwestern und Kerzlweiber‹ – »Fräul’n Teta ist halt wieder nervös«, flüsterte die Hausgemeinschaft. Doris aber, die eine Vorliebe für ironische Formeln schon früh bewies, pflegte mit dem Finger am Munde zu warnen: »Achtung, Glas! Bitte nicht stürzen!« In Wahrheit aber war es weniger der Gedanke an Blasrohr und Giftpfeile, der Teta bekümmerte, als der dumpfe Verdacht, der von ihr großgezogene Fürbitter könne ihr auf Nimmerwiedersehen entgleiten und der ganze, so kostspielige Lebensplan sich in nichts auflösen.
Da war es nicht nur für sie eine Erlösung, als der Missionar lang vor der gesetzten Frist sich plötzlich wieder meldete, und zwar von Zizkow, einem anderen Prager Bezirk her. Er sei heimgekehrt an Leib und Seele gebrochen, bekannte der Neffe. Von seinem elenden Körper wolle er umgehend mitteilen, daß sich sein altes Darmleiden durch die strengen Anforderungen eines gottgeweihten Lebens in der Wildnis und durch die beständige Konservenkost in eine unheilbare Krankheit verwandelt habe. Es bedürfe vieler Monate, ausgesuchter Diät, teurer Kuren und unerschwinglicher Arzneimittel, wenn er die Hoffnung fassen solle, noch einmal dem Leben wiedergegeben zu werden. Was aber seine seelische Gebrochenheit anbetraf, so schwelgte der Neffe in ausgesprochen Rousseauschen Wendungen. Nicht die im harmlosen Naturzustande vegetierenden Pygmäenstämme Feuerlands hätten in ihm die Flamme des Ideals und den Glauben an die Menschheit erstickt, sondern die weißhäutigen Vertreter der Kultur des Christentums, all diese hochangesehenen Professoren und Doktoren und Politiker und Kaufleute und Wohltäter und Abenteurer und die priesterlichen Amtsbrüder, jawohl auch diese, und zwar in erster Linie. Noch vor seinem vierzigsten Lebensjahre sei er, Mojmir Linek, ein bettelarmes Mitglied des katholischen Klerus, zum alten Manne geworden, glatzköpfig, gelbhäutig und durch die Schlechtigkeit der Welt bis auf den Tod enttäuscht. Tantchen würde ihn an Hand des einstigen, so lebensgetreuen Bildes gewiß nicht wiedererkennen. Wie bitter habe er den blauäugigen Jugendglauben seines Schwärmergeistes büßen müssen! Auch schleppe er jetzt sein linkes Bein infolge eines teuflischen Insektenstiches nach. Seine einzige Wohltäterin auf Erden habe immer und immer wieder recht gehabt, und sein sündiger Ungehorsam sei grausam bestraft worden. Nun werde er nie wieder ungehorsam sein und gegen Tantchen aufbegehren. Während er dieses schreibe, hebe er zwei Finger zum Schwur empor. Er hege keinen andern Wunsch mehr, als nach notdürftiger Wiederherstellung seines zerschlagenen Kadavers in irgendeiner Pfarrgemeinde als armseligster und niedrigster aller Christus-Diener unterzukriechen. Diesbezüglich habe er sich seinen Oberen schon zu Füßen geworfen . . .
Teta las den Brief des also ruhmlos Heimgekehrten mit Tränen in den Augen. Diese Tränen aber entflossen weniger dem Mitleid als der unsagbaren Erleichterung, ihren geweihten Neffen am Leben zu wissen. (Daß sie aus Feuerland keine Post erhalten hatte, war ihr in Anbetracht der dortigen Einöde ganz selbstverständlich erschienen.) Sie dankte dem Himmel,