Die Apokalypse ist nicht das Ende der Welt. Marie-Christin Spitznagel
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Der Fußboden der ‹Haltbar› bestand angeblich aus altem, abgewetztem PVC in Schachbrettoptik. Die vielen Jahre, in denen Menschen darauf getrunken, getanzt und diverse Körper- und andere Flüssigkeiten verteilt hatten, verliehen dem Boden inzwischen einen eher marmorierten Grauton. Es gab sogar Gerüchte, dass der Boden ursprünglich ein Teppich gewesen sein soll, Barhocker auf denen man zu lange saß, sanken buchstäblich in den Boden ein. Gerald hatte sich allerdings trotzdem dazu entschlossen, jeden Morgen feucht aufzuwischen. Auch die Farbe der Wände war schwer definierbar. Eine Mischung aus Grau und Schmutz, halb abgeknibbelten Aufklebern und alten Kaugummis. Nüchtern hatte man Hemmungen etwas anzufassen. Deshalb waren die meisten Menschen hier auch nicht nüchtern.
Dennoch besuchte Karla die Kneipe regelmäßig samstagabends. Während der Woche arbeitete sie hinter der Theke, am Wochenende vertrank sie davor ihr halbes Gehalt. Ihre Brüder hatten sie das erste Mal mit hierher genommen. Ihr ältester Bruder Thomas hatte auch schon dort hinter der Theke gestanden und Karla dort den Job organisiert. Ihr Chef Gerald war 56, schwul und in einer langjährigen, wenigstens offiziell monogamen Beziehung. Da musste man als großer Bruder keine Bedenken haben.
Auch wenn Karla sich nicht sicher war, warum, hatte sie sich heute richtig Mühe gegeben mit ihrem Outfit. Ein ‹Montreal Band› T-Shirt, von dem sie Ärmel und Kragen abgeschnitten hatte, schwarze Strumpfhosen mit strategisch platzierten Laufmaschen und einen Minirock zu schweren Lederboots. Sie hatte sich ihr Lieblingslied ‹Tag zur Nacht› von ‹Montreal› gewünscht, einer Punkrock Band aus Hamburg, und wiegte ihren Kopf im Takt mit.
«Wir waren die letzten wie so oft
Ich hab die Schulter, du den Kopf» Vor vier Jahren war sie mit ihren Brüdern auf einem kleinen Konzert dieser Band in Kassel gewesen. Die ganze Nacht war sie mit ihnen im Moshpit herum gesprungen und danach quer durch die Stadt zu einem Club gelaufen, weil sie das Geld für das Taxi lieber in Bier investieren wollte.
«Es ist schon lange wieder hell
Mir ging das alles viel zu schnell» Im Morgengrauen waren sie aus dem Club gestolpert, wieder durch die ganze Stadt gelaufen. Karla erinnerte sich daran, wie euphorisch sie gewesen war. Zusammen waren sie bis in die Wohnung, in der Karla damals mit ihrem ältesten Bruder Thomas wohnte, gelaufen, hatten sich unterwegs Döner-to-go gekauft und waren danach zusammen auf der Couch im Wohnzimmer eingeschlafen. An diesem Abend war Karla so glücklich gewesen wie nie davor oder danach in ihrem Leben.
«Und wenn die Stadt langsam erwacht
Machen wir den Tag zur Nacht»
Zwei Wochen später war ihr ältester Bruder mit seiner Freundin zusammengezogen. Sein Zimmer hatte ihr mittlerer Bruder übernommen. Aber auch nur, bis dieser eine Frau gefunden hatte, mit der er zusammenziehen konnte. Sie vermisste ihre Brüder, die inzwischen alle mit abgeschlossenen Studien und sicheren Jobs auf Ehe und Kinder zusteuerten. Während sie sich weiterhin die Wochenenden um die Ohren schlug und in einer Kneipe arbeitete.
Geistesabwesend strich sie sich eine ihrer widerspenstigen, roten Locken aus dem Gesicht und pulte weiter an einer Ecke des Etiketts ihrer Bierflasche. Sie war so in sich versunken, dass sie nicht bemerkte, wie sich Gerald über den Tresen zu ihr beugte. Erst als er ihr väterlich sanft über die Wange strich, blickte sie hoch und zog die sommersprossenübersäte Nase kraus.
«Mensch Mädchen, was machst du denn schon wieder hier? Du solltest unterwegs sein und Spaß haben! Muss ich dir das jeden Samstag sagen?»
«Ich habe doch Spaß!»
«Ja. Du siehst auch sehr amüsiert aus.» Gerald blickte sie mit einer Mischung aus Wehmut und Mitleid an. Karla seufzte. Sie kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass er versuchen würde, sie mit einem ganz miesen Witz aufzuheitern. Sein Humor war einer der plattesten, die sie kannte.
«Du weißt was es bedeutet, wenn man das Papier von Bierflaschen pult?»
«Dass man gerne Papier von Bierflaschen pult?»
«Es ist ein Zeichen für sexuelle Frustration.»
«Unmöglich. Ich habe nicht mal Sex, der mich frustrieren könnte.»
Trotz ihrer miesen Stimmung grinste sie innerlich. Anzüglichkeiten waren zwischen ihnen an der Tagesordnung. Die gehörten zum guten Ton, auch wenn sie natürlich nicht ernst gemeint waren. Er stand nicht auf Frauen und sie nicht auf kleine, dicke Männer, die aussahen wie Dirk Bach.
Gerald war auch ein Gegner und kein Opfer, wenn es darum ging, sich Anzüglichkeiten an den Kopf zu werfen. Schon als Teenie hatte sie ihre Eltern gerne schockiert und sich innerlich kaputtgelacht, wenn ihre Mutter mit hochrotem Kopf nach Luft schnappend den Raum verließ. Bei Gerald musste sie sich allerdings wesentlich mehr Mühe geben.
Sie sah ihn mit einem vieldeutigen Lächeln an, beugte sich vor, so dass ihre auf der Theke liegenden Arme die Brüste hoch pressten und ihrem schwarzen Bandshirt einiges an Anstrengung abverlangten, diese weiterhin wenigstens teilweise zu bedecken. Ganz nah brachte sie ihr Gesicht an seines, fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und flüsterte ihm ins Ohr:
«Willst du das ändern?» Nach diesen Worten nahm sie ihre Bierflasche in den Mund und leckte über den Flaschenhals. Sein fassungsloses Gesicht mit weit aufgerissenen Augen und offenstehendem Mund brachte sie so sehr zum Lachen, dass sie sich an ihrem Bier verschluckte.
«Ha ha. Sehr komisch, Fräulein. Ich hatte eine einzige Begegnung mit einer Vagina. Da habe ich heute noch Albträume von.» Er schüttelte sich und guckte gequält. Kurz darauf prusteten beide los. Sie brauchten einen Moment, um sich wieder zu beruhigen.
«Sei nicht so eine Memme und gib mir noch ein Bier!», grinste Karla ihn an und warf ihm einen Luftkuss zu.
«Sehr wohl!», Gerald drehte sich leise lachend um. Sie ließ ihren Blick durch die Bar schweifen. Niemand, mit dem man hätte reden können. Gelangweilt drehte sie sich zum Ständer mit den Werbepostkarten. Gedankenverloren blätterte sie durch die verschiedenen Motive. Dabei fiel ihr eine quietschpinke Postkarte mit Glitzerrand auf, von einer ‹Madame Destiny - Professionelles Zukunftsauswahlconsulting›.
«Was für eine gestalterische Missgeburt hast du denn da?», fragte Gerald, als er ihr ein neues Bier hinstellte.
«Keine Ahnung, das ist aber auch egal. Wir brauchen dringend Schnaps!»
«Wirklich? Brauchen wir?», lachte Gerald.
«Unbedingt. Ich verspüre ein spontanes, nicht zu ignorierendes Bedürfnis.»
«Na dann…», er grinste und schüttete zuckersüßen Kirschschnaps in zwei Gläser.
Eine halbe Stunde später standen sie Arm in Arm grölend auf der Theke: «Don’t stop me now!». Von Queen. Es war Geralds Lieblingslied. Weil er eine unaufhaltbare Queen wäre, sagte er. Die letzten Gäste verließen daraufhin die Bar, und Gerald holte eine weitere Flasche Kirschschnaps.
Sie fühlte sich angenehm benommen, als sie nach Hause lief. Die schreiende Unzufriedenheit und die dumpf an ihr nagende Unruhe, die sie seit dem Auszug ihres Bruders spürte, waren still. Danke Kirschschnaps! Sie zündete sich eine Zigarette an, die sie von einer zufällig vorbeikommenden Frau geschnorrt hatte. Eigentlich rauchte sie nicht. Sie machte nur Ausnahmen, wenn sie gestresst