Oliver Twist. Charles Dickens

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Oliver Twist - Charles Dickens

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erwiderte Sikes in Wuth.

      „Nein, ich bin nicht toll,“ rief Nancy blass und athemlos dazwischen; „nein, Fagin, glaubt’s nicht!“

      „Dann sei ruhig — willst du wol?“ sagte der Jude mit drohender Geberde.

      „Das will ich auch nicht!“ erwiderte Nancy mehr schreiend, als redend. „Was willst du nun?“

      Mr. Fagin war mit den Sitten und Gebräuchen der Species des Menschheitsgenus hinlänglich bekannt, welcher Miss Nancy angehörte, um sich ziemlich überzeugt zu fühlen, dass es einigermassen gefährlich sein würde, die Unterhaltung mit ihr für den Augenblick fortzusetzen. Er wendete sich daher, um die Aufmerksamkeit der Gesellschaft abzulenken, zu Oliver.

      „Du wolltest also fortlaufen, mein Lieber?“ sagte er, einen Knotenstock aufhebend, der am Kamine lag; „wolltest rufen die Polizei — nicht wahr, mein Schatz? Ich will dich von der Krankheit curiren, lieber Engel!“

      Er hatte bei diesen Worten Oliver beim Arme gefasst, versetzte ihm einen Schlag über den Rücken und hob den Knotenstock wieder empor, als Nancy auf ihn zustürzte, ihm den Stock aus der Hand riss und in das Feuer schleuderte.

      „Ich leid’s nimmermehr, Fagin!“ schrie sie. „Ihr habt den Knaben, und was wollt Ihr mehr?“ Lasst ihn — lasst ihn zufrieden, oder ich thue etwas an Euch, das mich vor meiner Zeit an den Galgen bringt!“ Sie stampfte bei dieser Drohung heftig mit den Füssen, und blickte mit verbissenen Lippen, geballten Fäusten und blass vor Zorn und Wuth wechselweis den Juden und Sikes an.

      „Ah, Nancy!“ sagte der Jude nach einer kurzen verlegenen Pause beschwichtigend; „du — du übertriffst dich wirklich heute Abend selbst — ha, ha, ha! — spielst ganz prachtvoll deine Rolle, liebes Kind!“

      „So!“ entgegnete Nancy; „nehmt Euch nur in Acht, dass ich sie nicht zu gut für Euch spiele. Ich sag’ es Euch vorher, Ihr werdet Euch sehr schlecht dabei stehen!“

      Es gibt wenige Männer, die sich nicht gern enthielten, ein in Wuth gerathenes und obenein von nichtsachtender Verzweiflung beseeltes Frauenzimmer noch mehr zu reizen. Der Jude sah ein, dass es ihm nichts helfen könne, sich noch länger zu stellen, als wenn er Nancy’s Zorn für blos erkünstelt hielte, fuhr unwillkürlich einige Schritte zurück, und blickte Halb zitternd, halb verzagend nach Sikes. Dieser mochte glauben, sein persönliches Ansehen fordere es, Nancy baldigst wieder zur Vernunft zu bringen, und begann daher seine Operationen mit zahlreichen und kräftigen Drohungen und Verwünschungen, wobei er den Beweis lieferte, dass er es in diesem Genre in der That zur Meisterschaft gebracht hatte. Als sie keinen sichtbaren Eindruck machten, ging er zu noch überzeugenderen Argumenten über. „Was soll das bedeuten, Dirne?“ tobte er unter Hinzufügung einer Verwünschung, die die Blindheit so gewöhnlich als die Masern machen würde, wenn der Himmel sie nur halb mal so oft wahr machte, als man sie auf Erden hört. „Was willst du damit bezwecken? Weisst du, zum Geier, wer du bist — was du bist?“

      „O ja, ja, ich weiss es nur zu gut!“ erwiderte Nancy unter krampfhaftem Lachen, und den Kopf hin- und herwiegend, um gleichgültig zu erscheinen, was ihr jedoch schlecht gelang.

      „Dann sei ruhig, oder ich werde dich auf ’ne lange Zeit zum Stillschweigen bringen.“

      Sie lachte abermals, blickte flüchtig nach Sikes, wendete das Gesicht ab und biss sich die Lippen blutig.

      „Du bist mir die Rechte, dich auf die menschenfreundliche und honette Seite zu legen!“ fuhr er verächtlich fort. „Der Bursch’ würde ’ne saubere Freundin an dir haben, wozu du dich aufwirfst!“

      „Und beim allmächtigen Gott, ich bin es!“ rief sie mit leidenschaftlicher Heftigkeit; „und ich wollte lieber, dass ich auf der Strasse todt niedergefallen oder in das Gefängniss geworfen wäre, statt derer, denen wir so nahe waren, als dass ich mich dazu hergegeben hätte, ihn hierher zu bringen. Er ist von heut’ Abend an ein Dieb, ein Lügner, ein Mörder, ein Teufel und Alles, was nur schlecht und verworfen heissen mag; — ist das nicht genug für den alten Halunken — muss er ihn obenein schlagen?“

      „Hört, Bill,“ fiel der Jude dringend und nach dem mit gespanntem Ohr zuhörenden Knaben hindeutend ein; „wir müssen freundliche Worte gebrauchen, freundliche Worte, Bill.“

      „Freundliche Worte!“ schrie das in seiner Wuth schrecklich aussehende Mädchen; „freundliche Worte, Ihr Schuft? Ja, die verdient Ihr auch von mir! Ich habe gestohlen für Euch, als ich noch nicht halb so alt war, als dies Kind hier, und bin im selbigen. Geschäft und im selbigen Dienst seit zwölf Jahren gewesen; wisst Ihr das nicht? Sprecht, wisst Ihr es nicht?“

      „Ja, ja doch,“ erwiderte der Jude besänftigend; „du hast ja aber auch davon dein Brod.“

      „Freilich, ich habe mein Bettelbrod davon,“ schrie sie immer heftiger, „und die kalten, nassen, schmutzigen Strassen sind meine Wohnung; und Ihr seid der ruchlose Mann, der mich Tag und Nacht hinaustreibt, und mich Tag und Nacht hinaustreiben wird, bis ich im Grabe liege.“

      Die Galle des Juden wurde erregt, er drohete ihr, sie zerraufte ihr Haar, stürzte auf ihn zu, und auf seinem Gesichte würden ohne Zweifel sichtliche Spuren ihrer Rache zurückgeblieben sein, hätte nicht Sikes eben noch zur rechten Zeit ihre Arme festgehalten. Sie bemühete sich vergeblich, sich von ihm loszureissen, und sank in Ohnmacht. Sikes legte sie auf eine Art Lager nieder, und bemerkte ruhig, es sei nun Alles gut, da sie im Zorn grosse Armstärke besässe. Der Jude wischte sich die Stirn und lächelte; und sowol er, als Sikes und die Knaben schienen den ganzen Vorfall als einen gewöhnlichen, im Geschäft häufig vorkommenden zu betrachten.

      „Nicht wahr, Fagin, er soll morgen seine besten Kleider nicht tragen?“ fragte Charley Bates greinend, und der Jude verneinte, Charley’s liebliches Greinen erwidernd. Master Bates schien sich seines Auftrags höchlich zu freuen, führte Oliver in das anstossende Gemach, in welchem einige Betten der Art standen, wie er sie bereits kennen gelernt, und zog mit unbezwinglichem Gelächter die alten Kleidungsstücke hervor, die sich Oliver so viel Glück gewünscht, ablegen zu dürfen, und die Fagin auf die erste Spur seines Aufenthalts bei Mr. Brownlow gebracht hatten.

      „Zieh’ die Sonntägischen aus,“ sagte. Charley, „ich will sie Fagin zum Aufheben geben. Welch’ ein prächtiger Spass!“

      Der arme Oliver gehorchte widerstrebend, und wurde darauf von Charley im Dunkeln gelassen und eingeschlossen. Master Bates’ Gelächter und die Stimme Betsy’s, die nach einiger Zeit erschien und ihre Freundin zum Bewusstsein zurückzurufen sich bemühete, wären gar wohl geeignet gewesen, ihn unter anderen Umständen wach zu erhalten; allein er war erschöpft und unwohl, und schlief daher bald ein.

      Siebenzehntes Kapitel.

      Oliver’s Schicksal bleibt fortwährend ungünstig.

      In jedem guten, mörderischen Melodrama auf der Bühne wechseln komische und tragische Scenen so regelmässig, wie die rothen und weissen Lagen einer Speckseite. Diese Abwechselungen erscheinen uns abgeschmackt, sind indess keineswegs unnatürlich. Die Uebergänge im wirklichen Leben von wohlbesetzten Tischen zu Sterbebetten, oder von Trauer- zu Festtagskleidern, sind nicht minder schroff oder Gefühl verletzend — wir aber sind beschäftigte Mitspielende, statt bloser Zuschauer, was einen unermesslichen Unterschied bildet; den Schauspielern sind die plötzlichen Uebergänge nicht auffällig, sie haben, so zu sagen, keine Augen für dieselben, die von den Zuschauern verkehrt, unnatürlich, extravagant genannt werden. Verdamme mich daher nicht zu voreilig, geneigter Leser, wenn du in meinem Buche einen häufigen Wechsel des Schauplatzes und der Scenen findest, sondern erzeige mir die Gunst,

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