Oliver Twist. Charles Dickens
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„Ach, mein Bruder! mein armer lieber kleiner Bruder,“ begann Nancy mit überströmenden Thränen und händeringend zu wehklagen. „Ach, was ist aus meinem Bruder geworden — wo soll ich ihn sinden? O, haben Sie Erbarmen, liebe Herren, und sagen Sie mir, was aus ihm geworden ist?“
Ihre Zuhörer waren entzückt; sie hielt inne, blinzelte lächelnd und bedeutungsvoll, und verschwand.
„Die Nancy ist ’ne gescheidte Dirne,“ sagte der Jude mit feierlichem, nachdenklichem Kopfnicken zu seinen beiden jungen Freunden, als wenn er sie mahnen wollte, das eben geschaute glänzende Beispiel nachzuahmen.
„Sie ist ’ne Zierde ihres Geschlechts,“ stimmte Sikes, sein Glas füllend und nachdrücklich auf den Tisch schlagend, ein. „Sie lebe hoch, und möchten ihr Alle gleich werden!“
Die Vielgepriesene eilte unterdess nach dem Polizeiamte, wo sie bald, trotz ein wenig natürlicher Schüchternheit, allein und ohne Beschützer die Strassen zu durchwandern, glücklich und ohne Gefährde anlangte. Nach einigen misslungenen Versuchen wendete sie sich weinend und wehklagend an den Gefängnisswärter, von welchem sie in Erfahrung brachte, dass Oliver’s Unschuld ans Licht gekommen, und dass er von dem beraubten Herrn mit fortgenommen sei, der in der Gegend von Pentonville wohne, wohin zu fahren er den Kutscher angewiesen habe. Mit dieser Auskunft kehrte sie zum Juden zurück.
Sobald sie ihren Bericht erstattet hatte, rief Bill Sikes hastig seinen Hund, stülpte den Hut auf den Kopf und entfernte ich, ohne sich Zeit zu der Formalität zu nehmen, der Gesellschaft einen guten Morgen zu wünschen.
„Wir müssen ihn ausforschen, er muss gefunden werden,“ sagte der Jude in grosser Aufregung. „Charley geh’ auf die Lauer, bis du etwas von ihm siehst oder hörst. Beste Nancy, ich muss ihn wiederhaben — ich verlasse mich ganz auf dich und den Baldoberer. Da, da habt ihr Geld. Ich entferne mich heut’ Abend von hier — ihr wisst, wo ich zu finden bin. Macht, dass ihr fortkommt — ihr dürft keinen Augenblick länger hier bleiben.“
Er stiess Alle hinaus, verschloss die Thür hinter ihnen und steckte seine Kostbarkeiten zu sich. „Er hat nichts ausgeschwatzt auf der Polizei,“ murmelte er; „thut er’s aber gegen die Leute, bei denen er sich jetzt aufhält — wir werden ihn wieder bekommen und wollen ihm schon stopfen den Mund.“
Vierzehntes Kapitel.
In welchem Mr. Grimwig auftritt.
Oliver erholte sich bald wieder. Brownlow und Frau Bedwin vermieden sorgfältig Alles, wodurch er wieder an das Bild oder seine Herkunft und Lage hätte erinnert werden können, und suchten ihn auf jede Weise angenehm zu unterhalten, ohne ihn aufzuregen. Als er jedoch am folgenden Tage wieder in das Zimmer der Haushälterin hinunterkam, hob er sogleich die Augen nach der Wand empor, in der Hoffnung, das Bild der schönen Dame zu erblicken. Er sah sich getäuscht; es war entfernt worden. Frau Bedwin hatte ihn jedoch beobachtet.
„Ah!“ sagte sie, „es ist nicht mehr da, mein Kind.“
„Ich seh’ es, Ma’am,“ erwiderte Oliver seufzend. „Warum ist es denn fortgenommen?“
„Weil Mr. Brownlow sagte, es schiene dich unruhig zu machen, und könnte daher deiner Herstellung schaden.“
„Ach, es machte mich gar nicht unruhig, Ma’am. Ich freuete mich, es anzusehen, und hatte es gar zu lieb gewonnen.“
„Nun, nun, mein Kind,“ sagte die gute Frau, „du besserst dich zusehends, und es soll schon wieder aufgehangen werden; ich verspreche es dir. Lass uns jetzt aber von andern Dingen sprechen.“
Sie hatte ihm in seiner Krankheit so viele Liebe erwiesen, dass er sich vornahm, einstweilen nicht mehr an das Bild zu denken. Er hörte ihr daher aufmerksam zu, als sie begann, ihm von ihren wohlgerathenen Kindern und ihrem guten seligen Ehemann zu erzählen. Sodann wurde Thee getrunken, worauf sie ihm Cribbage spielen lehrte, was er schnell begriff und eifrig mit ihr spielte, bis es Zeit war, zu Bett zu gehen.
Es folgten nun selige Tage für Oliver. Alles um ihn her war so still, sauber und ordentlich, und Jedermann war so liebevoll gegen ihn, dass er fast im Himmel zu sein glaubte. Als er im Stande war, sich wieder ordentlich anzukleiden, hatte Mr. Brownlow schon für einen ganz neuen Anzug gesorgt, und da ihm gesagt wurde, er könnte mit feinen alten Kleidern thun was er wollte, so gab er sie der Magd, die sehr gefällig gegen ihn gewesen war, und sagte ihr, sie möchte sie an einen Juden verkaufen und das Geld behalten. Die Magd machte sogleich Gebrauch von der erhaltenen Erlaubniss, Oliver sah durch das Fenster, wie der Jude seine ganze alte Garderobe zusammenwickelte, einsackte und fortging; und er freuete sich nicht wenig darüber, da er nun nicht mehr zu fürchten brauchte, die traurigen Lumpen je wieder anlegen zu müssen.
Es mochte etwa eine Woche verlaufen sein, als eines Nachmittags Mr. Brownlow hinunterschickte, und Oliver zu sich rufen liess. Frau Bedwin ordnete eiligst den Anzug und das Haar ihres kleinen Pfleglings, und begleitete ihn selbst bis an Mr. Brownlow’s Thür. Das Zimmer war mit Büchern angefüllt und das einzige Fenster öffnete in einen kleinen Blumengarten. Mr. Brownlow legte ein Buch aus der Hand, und sagte Oliver, er möchte näher kommen und sich setzen. Oliver that, wie ihm geheissen war, und dachte, wo die Leute wol gefunden werden könnten, eine solche Menge von Büchern zu lesen, die geschrieben zu sein schienen, um die Welt klüger zu machen — eine Sache, welche fortwährend erfahreneren Leuten zu schaffen macht, als Oliver Twist war.
„Du siehst hier sehr viel Bücher, nicht wahr; mein Kind?“ fragte Mr. Brownlow.
„Ja, sehr viele,“ erwiderte Oliver; „ich habe noch nie eine solche Menge von Büchern gesehen.“
„Du sollst sie, wenn du dich gut beträgst, auch lesen, was dir noch besser gefallen wird, als das blosse Beschauen der Bände — wenn auch nicht immer; denn es gibt allerdings Bücher, an welchen die Bände bisweilen das Beste sind. Möchtest du wol ein recht gescheidter Mann werden, und selbst Bücher schreiben?“
„Ich möchte lieber in Büchern lesen, Sir,“ entgegnete Oliver.
„Wie, du möchtest also kein Bücherschreiber sein?“ sagte der alte Herr.
Oliver besann sich ein wenig, und erwiderte endlich, es bedünke ihm weit besser, ein Bücherhändler zu sein, worüber der alte Herr herzlich lachte, und wozu er bemerkte, Oliver habe da etwas sehr Gescheidtes gesagt. Oliver freute sich, etwas sehr Gescheidtes gesagt zu haben, obgleich er durchaus nicht begriff, worin es bestehen möchte.
„Sei nur ohne Furcht,“ sagte der alte Herr; „ich werde dich nicht zum Schriftsteller machen, so lange es noch ein anderes ehrliches Geschäft oder Handwerk gibt, das du erlernen kannst.“
„Ich danke, Sir,“ entgegnete Oliver, und der alte Herr lachte abermals über den grossen Ernst, womit er antwortete, und sagte ein paar Worte von einem merkwürdigen Instinet, welche Oliver nicht sehr beachtete, da er sie nicht verstand. Brownlow fuhr darauf in einem, wo möglich noch freundlicheren, aber zugleich ernsteren Tone, als er gegen Oliver bis dahin angenommen, fort: „Sei jetzt recht aufmerksam auf das, was ich dir sagen werde. Ich gedenke ohne Rückhalt