Oliver Twist. Charles Dickens

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Oliver Twist - Charles Dickens

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bei wem; denn der Schreiber hustete im rechten Augenblicke und liess ein Buch zur Erde fallen — natürlich nur zufällig.

      Brownlow konnte, endlich vorbringen, was er zu sagen hatte, und fügte hinzu, dass er die Hoffnung hege, der Richter werde die Gesetze so mild als möglich anwenden, wenn er es als erwiesen annehmen sollte, dass der Knabe, wo nicht selbst ein Dieb, doch mit Dieben in Verbindung stehe.

      „Er ist bereits hart beschädigt,“ schloss er, „und ich fürchte, dass ihm sehr unwohl ist.“

      „Unwohl — so, so!“ sagte Fang mit einem höhnischen Lächeln. „Du spielst mir hier keine Comödie, du kleiner Landstreicher, das sag’ ich dir; kömmst mir damit nicht durch. Wie heissest du?“

      Oliver wollte antworten, aber die Zunge versagte ihm den Dienst. Er war todtenblass, und Alles schien rund mit ihm zu gehen.

      „Wie heissest du, du verhärteter Schlingel,“ donnerte ihn Fang wiederholt an. „Gerichtsdiener, wie heisst der Bube?

      Der Gerichtsdiener beugte sich über Oliver und wiederholte die Frage, gewahrte aber, dass der Knabe wirklich nicht im Stande war, zu antworten, und sagte daher, weil er wusste, dass der Richter sonst nur noch wüthender werden und eine noch härtere Strafe dictiren würde:

      „Er sagt, sein Name wäre Tom White, Ihr Edeln.“

      „Wo wohnt er?“ fragte Fang weiter.

      „Wo er eben kann,“ erwiderte der gutherzige Gerichtsdiener abermals für Oliver.

      „Hat er Eltern?“

      „Er sagt, sie wären in seiner Kindheit gestorben, Ihr Edeln,“ entgegnete der Gerichtsdiener. Es war die gewöhnliche Antwort in Fällen dieser Art.

      Oliver hob bei der letzten Frage den Kopf empor, sah mit flehenden Blicken umher, und bat mit schwacher Stimme um ein Glas Wasser.

      „Albernheiten!“ sagte Fang. „Hab’ mich ja nicht zum Narren, Bursch!“

      „Ich glaube wirklich, dass ihm unwohl ist, Ihr Edeln,“ wendete der Gerichtsdiener ein.

      „Ich weiss es besser,“ fuhr Fang auf.

      „Gerichtsdiener, halten Sie ihn,“ rief der alte Herr, „oder er sinkt zu Boden.“

      „Zurück da, Gerichtsdiener!“ tobte Fang; „mag er, wenn’s ihm beliebt.“

      Oliver bediente sich der freundlichen Erlaubniss, und fiel ohnmächtig von seiner Bank herunter.

      Der Richter befahl, ihn liegen zu lassen, bis er wieder zu sich käme; der Schreiber fragte leise, wie Mr. Fang zu verfahren gedächte.

      „Summarisch,“ erwiderte Mr. Fang. „Er wird drei Monate eingesperrt — natürlich bei harter Arbeit.“

      Zwei Schliesser schickten sich an, den ohnmächtigen Knaben in seine Zelle zu tragen, als plötzlich ein ältlicher, ärmlich, aber anständig gekleideter Mann athemlos hereintrat.

      „Halt — halt!“ rief er; „um des Himmels willen noch einen Augenblick Geduld.“

      Obgleich die Polizeibeamten die willkürlichste Gewalt über die Freiheit, den guten Ruf und Namen, ja fast das Leben der königlichen Unterthanen, besonders der ärmeren Klassen, zu üben pflegen, und obgleich in den Polizeigerichten genug Dinge vorgehen, um den Engeln blutige Thränen auszupressen, so erfährt das Publicum doch nichts davon, ausgenommen durch das Medium der Tagespresse. Mr. Fang war daher nicht wenig entrüstet, einen ungebetenen Gast eintreten und so ordnungswidrig auftreten zu sehen.

      „Was ist das? Wer ist das? Werft den Menschen hinaus!“ rief er.

      „Ich will und muss reden, Sir; ich lasse mich nicht hinauswerfen; hab’s Alles angesehen. Ich bin der Besitzer des Buchladens. Ich verlange, beeidigt zu werden. Mr. Fang, Sie müssen mich anhören — Sie können es nicht wagen, mein Zeugniss zurückzuweisen, Sir.“

      Er war im Recht, und sah zu entschlossen aus, als dass der Richter es hätte wagen dürfen, ihn abzuweisen. Fang liess ihm daher den Eid abnehmen, und fragte darauf, was er zu sagen habe.

      „Ich sah drei Knaben — zwei andere und diesen hier — um den Herrn da herumschleichen, der vor meinem Laden stand und las. Der Diebstahl wurde von einem anderen Knaben begangen, und dieser war ganz erstaunt darüber, — sah aus, als wenn ihn der Schlag gerührt hätte.“

      „Warum kamen Sie nicht schon früher her?“

      „Ich hatte Niemand, nach meinem Laden zu sehen, und bin hergelaufen, sobald ich Jemand auftreiben konnte.“

      „Also der Ankläger las?“

      „Ja, Sir — in dem Buche, das er in diesem Augenblicke in der Hand hat.“

      „Ah — ist es bezahlt?“

      „Nein,“ erwiderte der Bücherhändler lächelnd.

      „Mein Himmel, das hab’ ich ganz vergessen!“ rief der zerstreute alte Herr ganz unbefangen aus.

      „Vortrefflich! — und Sie werfen sich zum Ankläger eines unglücklichen armen Knaben auf!“ bemerkte Fang mit komisch aussehender Anstrengung, eine menschenfreundliche Miene anzunehmen. „Es scheint mir, Sir, dass Sie unter sehr verdächtigen und unehrenhaften Umständen zu dem Buche gelangt, und Sie mögen sich sehr glücklich schätzen, wenn der Eigenthümer nicht als Ankläger gegen Sie auftreten will. Nehmen Sie sich dies zur Lehre, mein Freund, oder Sie verfallen noch einmal dem Gesetze. Der Knabe ist freizulassen. Räumen Sie das Gerichtszimmer!“

      Der alte Herr wurde unter Au brüchen der Entrüstung, die er nicht länger mehr zurückzuhalten vermochte, hinausgeführt. Er stand im Hofraume, und sein Zorn verschwand. Oliver lag auf dem Steinpflaster; man hatte ihm die Schläfe mit Wasser gewaschen; er war weiss wie eine Leiche, und zitterte krampfhaft am ganzen Leibe. „Armes Kind, armes Kind!“ sagte Mr. Brownlow, sich über ihn hinunterbeugend. „Leute, ich bitte, schaff’ mir doch Jemand sogleich einen Miethwagen.“

      Gleich darauf fuhr ein leerer Wagen vorüber, Oliver wurde sorgfältig hineingehoben und auf einen Sitz gelegt, während der alte Herr auf dem anderen Platz nahm.

      „Darf ich Sie begleiten?“ sagte der Bücherhändler.

      „Ja, ja, mein werther Herr,“ erwiderte Brownlow. „Ich habe Sie vergessen; verzeihen Sie. Und da hab’ ich auch das unglückliche Buch noch. Steigen Sie geschwind ein, es ist keine Zeit zu verlieren.“

      Der Bücherhändler setzte sich zu Brownlow, und sie fuhren ab.

      Zwölftes Kapitel.

      In welchem für Oliver bessere Fürsorge getragen wird, als er sie noch in seinem ganzen Leben erfahren.

      Der Wagen hielt vor einem artigen Hause in einer stillen Strasse nicht weit von Pentonville. Mr. Brownlow liess Oliver sogleich zu Bett bringen, und sorgte mit einem Eifer für Pflege jeder Art, der keine Grenzen kannte. Sein Schützling verfiel in ein heftiges Fieber, und erwachte erst nach acht Tagen aus einem langen und unruhigen Traume, wie es ihm däuchte. „Wo bin ich?“ rief er mit schwacher Stimme. „Wer hat mich hierher gebracht?“

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