Oliver Twist. Charles Dickens

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Oliver Twist - Charles Dickens

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durch welche Oliver geführt wurde, waren zuerst schlecht, und dann abscheulich und immer abscheulicher, und was er von den Begegnenden und in den offenstehenden Läden und Gasthäusern sah und hörte, erfüllte ihn mit Bangigkeit und Schauder. Es wurde ihm immer unheimlicher, und er überlegte schon, ob er nicht am besten thäte, davonzulaufen, als ihn sein Führer plötzlich beim Arme nahm, die Thür eines Hauses unweit Fieldlane öffnete, ihn hineinzog und die Thür wieder verschloss. Der Baldoberer pfiff, und erwiderte auf den Ruf: „Wer da?“ — „Grim und petacht!“ 7 Unten auf der Hausflur zeigte sich Licht, und der Kopf eines Mannes tauchte auf der zur Küche hinunterführenden Treppe empor.

      „Es sind Eurer zwei — wer ist der Andre?“

      „Ein neuer Chawwer,“ rief Jack, Oliver nachziehend, zurück.

      „Woher kömmt er?“

      „Von Grünland. Ist Fagin oben?“

      „Ja. Er sortirt die Schneichen. 8 Geh’ hinauf!“

      Das Licht und der Kopf verschwanden.

      Jack führte Oliver eine finstere, sehr beschädigte Treppe hinauf, mit der er jedoch sehr genau bekannt zu sein schien, öffnete die Thür eines Hinterzimmers und zog Oliver nach.

      Die Wände des Gemachs waren von Schmutz und Rauch geschwärzt, auf einem elenden Tische stand ein in den Hals einer Bierflasche gestecktes Licht, und am Kamine die zusammengeschrumpfte Gestalt eines alten Juden mit einem zurückstossenden, spitzbübischen, satanischen Gesicht, das durch dichte, klebrige rothe Haare verdunkelt wurde. Er steckte in einem fettigen flanellenen Schlafrocke, trug den Hals bloss, und schien seine Aufmerksamkeit zwischen dem Feuer, an welchem er Brodschnitte röstete, und dem Kleiderstocke zu theilen, auf welchem eine grosse Anzahl seidener Taschentücher hing. An dem Tische sassen vier oder fünf Knaben, keiner älter als Jack, rauchten aus langen Thonpfeifen und tranken Branntwein, ganz als wenn sie Erwachsene gewesen wären. Sie drängten sich um den Baldoberer, als er dem Juden einige Worte zuflüsterte, dreheten sich darauf nach Oliver um, und sie und der Jude grinsten ihn an.

      „Fagin, das ist er, mein Freund Oliver Twist,“ sagte Jack Dawkins laut.

      Der Jude greinte, machte Oliver eine tiefe Verbeugung, fasste seine Hand, und sagte, er hoffe die Ehre seiner näheren Bekanntschaft zu haben. Hierauf umringten ihn die jungen rauchenden Gentlemen, und drückten ihm eifrig die Hände — besonders die linke, in welcher er seinen kleinen Bündel trug. Der Eine von ihnen bezeigte grossen Eifer, seine Kappe aufzuhängen, und ein Anderer war so dienstfertig, in seine Tasche zu greifen, um ihn der Mühe zu überheben, wenn er sich niederlegte, sie auszuleeren; und alle diese Höflichkeiten würden kein Ende gehabt haben, wenn der Jude die Köpfe der gefälligen jungen Herren nicht mit der Röstgabel, die er in der Hand hielt, zu bearbeiten angefangen hätte, worauf sich Alle zu Tisch setzten.

      Nachdem Oliver seinen Theil gegessen, mischte ihm der Jude ein Glas heissen Genevre mit Wasser, und sagte ihm, er müsse sogleich austrinken, weil noch Jemand des Glases bedürfe. Oliver that, was ihm geheissen war, sein Freund Jack hob ihn auf, legte ihn auf ein aus alten Säcken bereitetes Lager, und er versank sogleich in einen tiefen Schlummer.

      Neuntes Kapitel.

      Weitere Mittheilungen über den alten Herrn und seine hoffnungsvollen Zöglinge.

      Es war schon spät am folgenden Morgen, als Oliver aus einem langen, festen Schlummer erwachte, doch vorerst nur zu jenem Mittelzustande zwischen Schlaf und Wachen, in welchem man sich noch nicht vollkommen ermuntern kann, und doch Alles hört und sieht, was umher vorgeht.

      Der Jude war ausser Oliver allein im Zimmer. Er schlürfte seinen Kaffee, setzte das Geschirr nach einiger Zeit zur Seite, stand eine Weile am Kamin, wie wenn er nicht wüsste, was er zunächst vornehmen sollte, blickte darauf nach Oliver hin und rief ihn bei Namen. Oliver antwortete nicht und schien noch zu schlafen.

      Der Jude horchte, ging zur Thür, schob den Riegel vor, und nahm darauf, wie es Oliver schien, aus einer Vertiefung des Fussbodens eine kleine Schachtel heraus, und stellte sie auf den Tisch. Seine Augen glänzten, als er sie öffnete und in die Schachtel hineinschaute. Er setzte sich, und nahm eine goldene, von Diamanten funkelnde Uhr heraus.

      „Aha!“ murmelte er mit einem entsetzlichen Lächeln. „Verdammt pfiffige Bestien! Und courageux bis zum letzten Augenblick. Sagten mit keinem Sterbenswörtchen dem alten Pfarrer, wo sie wären, verkappten 9 den alten Fagin nicht. Und was hätt’s ihnen geholfen? Der Strick wäre doch geblieben fest — hätten gebaumelt keinen Augenblick später. Nein, nein! Wackre Bursche, wackre Bursche!“

      Er legte die Uhr wieder in die Schachtel, nahm mehrere andere, und dann Ringe, Armbänder und manche Kostbarkeiten heraus, deren Namen oder Gebrauch Oliver nicht einmal kannte, und beäugelte sie mit gleichem Vergnügen. Hierauf legte er ein sehr kleines Geschmeide in seine flache Hand, und schien lange bemüht, zu lesen, was darin eingegraben sein mochte. Endlich liess er es, wie am Erfolge verzweifelnd, wieder in die Schachtelhineinfallen, lehnte sich zurück und murmelte:

      „Was es doch ist für ’ne hübsche Sache ums Hängen! Todte bereuen nicht — bringen ans Licht keine dumme Geschichten. Selbst die Aussicht auf den Galgen macht sie keck und dreist. ’S ist sehr schön fürs Geschäft. Fünf aufgehangen in einer Reihe, und keiner übrig zu theilen mit mir oder zu lehmern.“ 10

      Er blickte auf, seine schwarzen stechenden Augen begegneten Oliver’s Blicken, die in stummer Neugier auf ihn geheftet waren, und er gewahrte sogleich, dass er beobachtet worden war. Er drückte die Schachtel zu, griff nach einem auf dem Tische liegenden Messer und sprang wüthend und am ganzen Leibe zitternd auf.

      „Was ist das?“ rief er. „Warum passest du mir auf? Warum bist du wach? Was hast du gesehen? Sprich, Bube — sprich, sprich, so lieb dir dein Leben ist!“

      „Ich konnte nicht mehr schlafen,“ erwiderte Oliver bestürzt. „Es thut mir sehr leid, wenn ich Sie gestört habe, Sir.“

      „Hast du nicht schon seit einer Stunde gewacht?“ zürnte der Jude.

      „Nein, Sir — nein wahrlich nicht,“ sagte Oliver.

      „Ist’s auch wahr?“ rief der Jude mit noch drohenderen Geberden.

      „Auf mein Wort, Sir,“ versicherte Oliver.

      „Schon gut, schon gut,“ fuhr der Jude, auf einmal sein gewöhnliches Wesen wieder annehmend, fort. „Ich weiss es wohl — wollte dich nur erschrecken — auf die Probe stellen. Du bist ein wackrer Junge, Oliver.“ Er rieb sich kichernd die Hände, blickte jedoch unruhig nach der Schachtel hin. „Hast du gesehen die hübschen Sachen? fragte er nach einigem Stillschweigen.

      „Ja, Sir.“

      „Ah!“ rief erblassend der Jude aus. „Sie — sind mein Eigenthum, Oliver; mein kleines Eigenthum — Alles, was ich besitze für meine alten Tage. Man schilt mich einen Geizhals — aber ich muss doch leben.“

      Oliver dachte, der alte Herr müsse wirklich ein Geizhals sein, denn er würde sonst nicht, obgleich im Besitz solcher Schätze, so erbärmlich wohnen. Indess meinte er, seine Liebe zu Jack und den andern Knaben möchte ihm wol viel Geld kosten. Er fragte schüchtern, ob er aufstehen dürfe. Der Jude hiess ihn Wasser zur Waschen aus dem dastehenden Steinkruge holen, und als Oliver es geschöpft hatte und sich umdrehete, war die Schachtel verschwunden.

      Er hatte sich kaum gewaschen, als der Baldoberer nebst einem der Knaben eintrat, die Oliver am vorigen Abend hatte

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