Oliver Twist. Charles Dickens
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Siebentes Kapitel.
Oliver bleibt widerspenstig.
Noah stürzte mit einem so jammervollen Geschrei und unter Geberden in das Armenhaus hinein, dass Bumble, ohne Hut und Stab aus seinem Zimmer herausstürzend, den Beweis lieferte, wie selbst ein Kirchspieldiener unter Umständen ausser Fassung gerathen und seiner persönlichen Würde vergessen kann.
„O, Mr. Bumble — o Sir!“ schrie Noah; „Oliver, Sir — Oliver Twist!“
„Wie — was? Ist er — ist er davongelaufen?“
„Nein, Sir; er ist ganz ruchlos geworden. Er hat mich und Charlotte und Missis ermorden wollen! O Sir! o Sir — mein Nacken, mein Kopf, mein Leib, mein Leib!“
Sein Geheul zog den Herrn mit der weissen Weste herbei.
„Sir,“ rief Bumble demselben entgegen, „hier ist ein Knabe aus der Freischule, der von dem Oliver Twist beinahe ermordet worden wäre!“
„Mein Sinn hat mir’s von Anfang an zugetragen,“ bemerkte der Herr mit der weissen Weste, „dass der kleine Satan noch gehangen werden würde.“
„Er hat auch die Magd ermorden wollen,“ sagte Bumble mit bleichem Gesicht.
„Und die Frau,“ fiel Noah ein.
„Und nicht wahr, Noah, sagtest du nicht, auch seinen Herrn?“ sagte Bumble.
„Nein, der Herr war nicht zu Hause, sonst hätt’ er ihn auch gemordet,“ antwortete Noah. „Aber der Bösewicht sagte, er wollte —“
„Sagte er das — was wollte er?“ fragte der Herr mit der weissen Weste.
„Ja, Sir,“ erwiderte Noah; „und Missis wünscht zu wissen, ob Mr. Bumble wol nicht einen Augenblick Zeit hätte, um zu kommen und ihn abzupeitschen, da der Herr nicht zu Hause ist.“
Noah wurde belobt, und Bumble erhielt den Auftrag, sich sofort nach Mr. Sowerberry’s Hause zu begeben, Oliver zu züchtigen, ihn ja nicht zu schonen, und seinen Herrn zu ermahnen, ihn in der schärfsten Zucht zu halten. Bumble und Noah machten sich sogleich auf den Weg. Angelangt, forderte Bumble den Gefangenen auf, sich vor allen Dingen ruhig zu verhalten.
„Lasst mich hinaus!“ rief Oliver.
„Kennst du meine Stimme, Oliver?“
„Ja!“
„Fürchtest du dich nicht — zitterst du nicht bei meiner Nähe?“
„Nein!“
Bumble war starr vor Erstaunen.
„Er muss verrückt geworden sein,“ bemerkte Mrs. Sowerberry.
„’S ist keine Verrücktheit, Ma’am,“ sagte Bumble; „’s ist das Fleisch!“
„Das Fleisch!“
„Ja, ja, Ma’am! Sie haben ihn überfüttert, Ma’am. Hätten Sie ihm nichts als Haferbrei gegeben, so wäre er nimmermehr so geworden.“
Mrs. Sowerberry machte sich wegen ihrer Gutherzigkeit und Freigebigkeit die bittersten Vorwürfe, so unschuldig in Gedanken, Worten und Werken sie auch war.
Bumble, erklärte, dass nur Gefängniss und sodann strenge Diät den rebellischen Sinn des kleinen Galgenstricks würden bändigen können, öffnete die Thür, zog Oliver heraus, begrüsste ihn mit einigen nachdrücklichen Ohrfeigen, und rückte ihm sein entsetzliches Vergehen vor.
„Er schimpfte meine Mutter,“ sagte Oliver ohne alle Zeichen von Scheu vor dem Gewaltigen.
„Und wenn er das auch that, du undankbarer Bösewicht,“ versetzte Mrs. Sowerberry. „Sie hat’s verdient, was er von ihr gesagt hat, und noch viel mehr.“
„Nein, nein!“ rief Oliver. „’S ist eine Lüge.“
Mrs. Sowerberry brach in eine Thränenflut aus, die dem Gatten, der inzwischen zu Hause gekommen war, keine Wahl liess. Denn wenn er nicht auf der Stelle Oliver nachdrücklich gezüchtigt hätte, so würde er sich, gemäss allen Ehezänkereiregeln, als eine Nachtmütze, ein liebloser Ehemann, ein Ungeheuer gezeigt haben. So ungern er es daher auch thun mochte, er peitschte Oliver dermassen ab, dass die nachträgliche Anwendung des Rohrs Mr. Bumble’s jedenfalls sehr unnöthig war. Oliver wurde darauf bei Wasser und Brod wieder eingesperrt, und spät Abends unter Noah’s unbarmherzigem Gespött zu Bett gewiesen.
Und erst hier liess er seinen Gefühlen freien Lauf. Er hatte allen Spott und Hohn mit hartnäckiger Verachtung, die schmerzlichsten Streiche ohne Schrei ertragen, und würde nicht geweint haben, wenn man ihn lebendig geröstet hätte; ein solcher Stolz war in seiner Brust erwacht. Nun aber, da er allein und gänzlich sich selber überlassen war, fiel er auf die Knie nieder, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte solche Thränen, wie Gott sie den Betrübten und Geängsteten zur Erleichterung ihres Herzens sendet, wie nur wenige menschliche Wesen, so jung an Jahren als Oliver, sie zu vergiessen Ursachen hatten.
Es währte lange, bevor er sich wieder erhob. Das Licht war tief hinuntergebrannt, er horchte und blickte vorsichtig umher, öffnete leise die Thür und sah hinaus. Die Nacht war finster und kalt. Die Sterne schienen ihm weiter von der Erde entfernt zu sein, als er sie je gesehen; die Bäume, von keinem Winde bewegt, standen wie Geister da. Er verschloss die Thür wieder, knüpfte seine wenigen Habseligkeiten in ein Taschentuch, und setzte sich auf eine Bank, um den Anbruch des Tages zu erwarten.
Mit dem ersten durch die Ritzen der Fensterladen eindringenden Lichtstrahle stand er auf, öffnete die Thür zum zweiten Male, blickte furchtsam umher, zögerte ein paar Augenblicke, trat hinaus, und ging, ungewiss, wohin er sich wenden sollte, rasch vorwärts. Nach einiger Zeit gewahrte er, dass er sich ganz in der Nähe des ländlichen Hauses befände, in welchem er seine ersten Kinderjahre verlebt hatte. Es war Niemand zu hören oder zu sehen; er blickte in den Garten hinein. Einer seiner kleinen, weit jüngeren Spielkameraden reinigte ein Beet vom Unkraut. Sie hatten mit einander gar oft Hunger, Schläge und Einsperrung erduldet.
„Pst! Dick!“ rief Oliver.
Der Knabe lief herbei und streckte ihm die abgemagerten Hände durch die Gitterthür entgegen.
„Ist schon Jemand auf, Dick?“
„Keiner, als ich.“
„Sag’ ja nicht, dass du mich gesehen hast, Dick; ich bin fortgelaufen; konnt’s nicht mehr aushalten, und will mein Glück in der Welt versuchen. Ich muss weit fort von hier; weiss nicht wohin. Wie blass du aussiehst!“
„Ich habe den Doctor sagen hören, dass ich sterben müsste. Ach, das ist schön, dass du hier bist! Aber halt’ dich nicht auf; lauf’ fort!“
„Ja,